Kind der Nacht
einem Jahr hatte sie immer noch Angst, eine neue Bindung einzugehen. Darum war sie nicht zu Hause, deshalb befand sie sich hier, in einem Land, dessen Sprache sie noch nicht einmal verstand. So schmerzhaft die Scheidung auch gewesen sein mochte, die Einsamkeit tat ihr weh. Aber sie hatte sie ertragen, Tag und Nacht, und sich schließlich mit ihr abgefunden; und nun wollte sie sich nicht mehr von dem Gefühl trennen, das zu ihrem ständigen Begleiter geworden war.
Abermals erklang das Geräusch, als habe jemand einen Kieselstein angestoßen.
Carol blieb stehen und wandte sich um. Der Weg lag verlassen vor ihr, und auch am Ufer bewegte sich nichts. Vor ihr führte eine Unterführung unter der Pont de Pierre hindurch, jener vierspurigen, auf gewaltigen steinernen Bögen ruhenden Brücke im Zentrum der Stadt, die in napoleonischer Zeit erbaut worden war und größeren Schiffen den Weg nach Süden versperrte. Die Unterführung war unbeleuchtet.
Sie dachte daran, zur Hauptstraße zurückzukehren - sie befand sich in Sichtweite -, wollte sich dem wirklichen Leben aber noch nicht wieder stellen. Hier ist niemand, sagte sie sich. Der Tunnel ist leer. Man kann das andere Ende sehen. Bestimmt nur eine Katze!
Es ging abwärts. Sie folgte dem Weg in das undurchdringliche Dun kel. Das Geräusch von Wellen, die sich an Felsen brachen und gegen hölzerne
Hindernisse klatschten, wurde von den Wänden zurückge worfen, begleitet vom Klacken ihrer Absätze, die auf dem feuchten Stein widerhallten. Der Verkehrslärm von der Brücke drang nur gedämpft zu ihr.
Plötzlich vernahm sie ein Rascheln. »Ist da jemand?«, rief sie ins Dunkel, ihre Stimme etwas zu schrill, und ihr fiel ein, dass, wer immer da sein mochte, wahrscheinlich kein Englisch verstand. Sie wandte sich um. Schwärze umfing sie, auf der anderen Seite ahnte sie den mondbeschienenen Weg.
Sie hatte die Unterführung zur Hälfte durchquert, nach vorn war es genauso weit wie zurück. Sie zögerte, doch schließlich setzte sie einen Fuß vor, und ihr war, als höre sie hinter sich ein Tappen. Stille.
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie wagte nicht, auszuatmen, und die Muskeln an Hals und Nacken verspannten sich. Ihre Hände wurden feucht.
Carol setzte den anderen Fuß nach vorn, und wieder hörte sie hinter sich einen Schritt. Sie hielt inne, und einen Sekundenbruchteil später verklang auch das fremde Geräusch. Sie ging schneller, rannte, sich ständig umblickend, auf das jenseitige Ende der Unterführung zu.
Wham! Sie prallte gegen ein Hindernis und schrie auf. Als sie den Kopf wieder nach vorn wandte, blickte sie in das Gesicht des Mannes aus dem Café.
»Sie!«, entfuhr es ihr, verängstigt und böse zugleich. Sie wich vor ihm zurück.
Er erwiderte nichts, musterte sie nur. Sein Gesicht erschien ihr hagerer als zuvor, irgendwie sah er hungrig aus. Er war wesentlich größer und kräftiger, als Carol ihn in Erinnerung hatte.
Rasch gewann sie ihre Fassung wieder. »Was, zum Teufel, glauben Sie eigentlich, wer Sie sind, mir hier nachzustellen? Ich sollte Sie anzeigen.«
Seine Lippen verzogen sich zu einem humorlosen Grinsen, doch noch immer sagte er nichts.
Wütend versuchte Carol, sich an ihm vorbeizuzwängen, doch er hielt sie am Arm fest. »Lassen Sie mich los oder ich schreie!«, drohte sie ihm.
»Nur zu, wenn es Ihnen gefällt. Ich mag es, wenn Frauen schreien. Aber glauben Sie bloß nicht, dass irgendjemand Sie hören wird. Und falls doch, wird er Ihnen nicht zu Hilfe kommen.«
Sie holte mit ihrer Handtasche aus, gleichzeitig versuchte sie, ihm das Knie in den Unterleib zu rammen. Er grinste, seine Augen funkelten amüsiert. Offensichtlich weidete er sich an ihrer Hilflosigkeit und Angst. Sein Mund öffnete sich, einen Sekundenbruchteil nur, doch lange genug, dass ihr Unterbewusstsein etwas Merkwürdiges registrierte.
In ihrem Innern läuteten alle Alarmglocken, während eine Woge der Angst über ihr zusammenschlug.
»Qu’y a-t-il?« Eine Männerstimme. Sie erklang ganz in der Nähe.
»Hilfe! Helfen Sie mir!«, schrie Carol.
Plötzlich stieß ihr Angreifer sie von sich. Sie stolperte, wurde herumgewirbelt und landete mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden.
Mit angehaltenem Atem wartete sie darauf, dass er ihr nachsetzte. Stattdessen vernahm sie ein Gerangel, und als sie sich umwandte, sah sie einen älteren Mann - er war mindestens sechzig -, der versuchte, sich ihres Peinigers zu
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