Kind der Nacht
allzu großen Sorgen, aber die Frauen waren nett zu ihr gewesen. »Tut mir Leid«, sagte sie zu Chloe und wandte sich dann Gerlinde zu. »Ich habe es nicht so gemeint, wie es sich anhört. Eigentlich habe ich nur Angst.«
»Du lügst!« Mit schnellen Schritten durchmaß André den Raum, packte sie bei den Haaren und zog sie hoch. »Es steht dir doch ins Gesicht geschrieben. Was ist der wahre Grund, weshalb du das Kind nicht haben willst?« Carol begann zu zittern.
»Gib mir eine Antwort!«
»Es ... es ist möglich, dass ich etwas habe.«
»Was soll das nun wieder heißen?«
»Etwas Ansteckendes.«
»Und das wäre?«
Sie scheute sich, es laut auszusprechen, denn es verhieß so Schreckliches. »HIV. Der Test ist zweimal negativ verlaufen, aber wahrscheinlich trage ich das Virus in mir - mein Ex-Mann hat Aids. Das Baby ist vermutlich infiziert.«
Alles schwieg. Carol blickte von einem zum ändern. Chloe wirkte besorgt und Gerlinde schockiert. Andrés Gesicht war aschfahl - und wütend.
»Du kleine Schlampe«, flüsterte er mit unterdrückter Stimme. »Deshalb warst du so scharf darauf, dich von mir vögeln zu lassen. Du hast gedacht, du könntest mich anstecken, damit das Virus mich umbringt!«
Carol war wie vor den Kopf gestoßen. »Nein, das habe ich nicht...«
»Das hast du dir ja prächtig ausgedacht! Du hast geglaubt, selbst wenn ich dich aussaugen würde, würdest du mich noch kriegen!«
»Ich habe nie vorgehabt, dich anzustecken. So etwas würde ich niemandem antun! Ich habe doch versucht, es dir zu sagen, mehrmals...«
»Du verlogene ...« Er hob die Hand, um sie zu schlagen, aber Gerlinde trat dazwischen. »Cool, Kleiner! Du hast ja gerade einen gigantischen Schluss gezogen.«
Er schob sie beiseite, doch prompt meldete Chloe sich zu Wort: »André! Schluss damit!«
»Haltet ihr euch da raus!«, warnte er die beiden. »Sie gehört mir! Und ich kann mit ihr anstellen, was ich will, dieses Recht habe ich. Keiner von euch darf sich da einmischen.«
Chloe fing an, auf Französisch mit ihm zu sprechen. Mit ruhiger Stimme schien sie ihm etwas zu erklären. Je mehr sie sagte, desto mehr Widerworte gab er. Doch irgendwann zeigte etwas von dem, was sie sagte, Wirkung, und er verfiel in Schweigen. Sowohl er als auch Gerlinde starrten Chloe erstaunt an und hörten ihr wie gebannt zu.
Carol hatte keine Ahnung, was los war, dennoch war sie Chloe dankbar. Sie wusste, dass André die Absicht gehabt hatte, ihr ernsthaft wehzutun. Dieser ganze Ort, sie alle... Es war, als würde sie plötzlich erwachen, nur um festzustellen, dass sie im Irrenhaus gelandet war. Sie merkte, dass sie dabei war, den Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren.
Als Chloe endete, ließ Gerlinde sich auf einen Stuhl fallen. »Das glaube ich nicht!«
Chloe sagte noch etwas auf Französisch. Darauf packte André Carol am Arm und zog sie mit sich. Als sie die Tür hinter sich ließen, hörte sie Chloe zu Gerlinde sagen: »Ich sollte Jeanette Bescheid geben, dass sie bezüglich der Herrscherin Recht hatte.«
Er schleifte sie beinahe die Treppe hinauf und brachte sie in dasselbe Zimmer, in dem sie auch zuvor schon gewohnt hatte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stieß er sie hinein, schlug die Tür zu und schloss von außen ab.
Den restlichen Teil der Nacht verbrachte Carol allein. Kurz vor Sonnenaufgang brachte das Dienstmädchen ihr ein Tablett mit Essen. Neben einem Teller voll Leber und Spinat stand eine Flasche mit der Aufschrift: Vitamines et Minéraux multiples comprimés.
10
Kaum war am nächsten Abend die Sonne untergegangen, erschien das Dienstmädchen erneut und brachte wieder etwas zu essen. Trotz der chaotischen Ereignisse des Abends zuvor hatte Carol gut geschlafen, bis in den späten Nachmittag hinein. Sie fühlte sich erholt, war hungrig und aß noch immer, als André eintrat.
Er nahm ihr gegenüber Platz und beobachtete sie. Heute Abend ging es ihr besser. Sie fühlte sich nicht mehr so verwundbar und ließ sich Zeit mit dem Essen. Sollte er doch auf sie warten! Als sie fertig war, legte sie Messer und Gabel beiseite, tupfte sich den Mund ab und lehnte sich zurück.
Die Minuten vergingen. Keiner von beiden sagte ein Wort. Sie schenkte etwas Kamillentee in eine türkisblau-weiße Porzellantasse mit Goldrand und trank einen Schluck. Weitere Minuten verstrichen. Sie kam sich vor wie unter einem Mikroskop. Er musterte sie und suchte zweifellos nach etwas, was er an ihr
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