Kind der Nacht
Nase ab und legte ihn Carol, nachdem die Nachgeburt vorüber war, auf den Bauch. Chloes Anweisungen gemäß gab er ihm weder Tropfen in die geschlossenen Augen noch durchtrennte er die Nabelschnur.
Das Kind hatte dunkle Locken, die eher Andrés Haarfarbe entsprachen als der ihren. Es lag bequem auf ihr, reglos, die kleinen Händchen zu Fäusten geballt, und erholte sich schlafend vom Trauma seiner Geburt.
Sie konnte sich nicht zurückhalten, musste ihn berühren, bewunderte ihn und konnte es kaum fassen, dass er aus ihrem Körper gekommen war. Seine Haut fühlte sich weich und warm an, ein bisschen feucht, und er war so schwach und hilflos, dass sie gar nicht anders konnte, als ihn zu lieben. Ohne nachzudenken, legte sie ihn sich an die Brust. Sie bekam mit, dass Julien ihr schweigend zusah, aber er sagte nichts wegen der Vormilch. Das Baby spitzte automatisch die winzigen Lippen und begann, mit einem Ausdruck höchster Zufriedenheit auf dem kleinen Gesicht, zu saugen. Mehr denn je war sie sich der Tatsache bewusst, dass sie ihn nicht weggeben konnte.
Bei Sonnenuntergang kamen die anderen nach und nach in ihr Zimmer. Sie wuschen sie, zogen sie an und gratulierten ihr. Jeder wollte ihn einmal halten.
»Hat er schon sein Blut bekommen?«, wollte Chloe wissen.
»Nein, noch nicht«, erwiderte Carol. Die Milch erwähnte sie mit keinem Wort.
Chloe gab ihm das warme Blut, und er schluckte es mit demselben Eifer, mit dem er bei Carol getrunken hatte, was sie gleichermaßen beunruhigte und verwirrte.
Als André hereinkam, sagte er nichts. Er nahm das Kind und betrachtete es mit großen Augen, nicht viel anders, als Carol es auch getan hatte. Und als er ihr einen kurzen Blick zuwarf, war ihr klar, dass auch er darüber staunte, ein so winziges, vollkommenes Wesen gezeugt zu haben.
Das Baby wurde nun in warme Baumwollkleider gehüllt und Carol in die Arme gelegt, und sie ließ sich vom Schlaf übermannen. Als sie aufwachte, lag André neben ihr, und das Kind war weg. »Wo ist er?«
»Gerlinde hat ihn runtergebracht.«
»Ich will ihn haben.«
»Später. Du bist doch vollkommen erschöpft. Erst musst du dich erholen. Sie werden sich gut um ihn kümmern.«
»Und dann gibst du ihn mir wieder?«
»Heute Abend, ja. Und morgen Abend auch. Aber danach ...«
»Danach was?«
»Danach musst du dich entscheiden, ob du bleiben willst oder gehst.«
»Ich will nur mein Baby. Ich will bei ihm sein. Ich werde ihn nicht aufgeben.«
»Dann wirst du die Verwandlung durchlaufen müssen. Ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass ich es tun werde.«
»Nein, das will ich nicht!«
Abrupt setzte er sich auf. »Carol, ich habe dir doch gesagt, dass es die einzige Möglichkeit ist. Wir können nicht zulassen, dass du ihn als Sterblichen aufziehst. Er bleibt hier bei uns. Wenn du bleiben willst, musst du die Verwandlung durchlaufen. Sonst musst du gehen.«
Sie machte Anstalten, aufzustehen.
»Wo willst du hin?« Als er sie zurückzog, sträubte sie sich dagegen.
»Ich will mein Baby! Niemand wird mich aufhalten!«
»Bleib hier! Ich habe dir doch gesagt, dass Gerlinde ihn in einer guten Stunde zurückbringt. Dreh dich um. Ich massiere dir den Rücken.«
»Du lügst.« Sie hob die Stimme und konnte sich nicht mehr beherrschen. »Du willst ihn mir gar nicht zurückgeben.«
»Ich lüge nicht«, herrschte André sie an. »Das habe ich nicht nötig. Ich habe gesagt, du wirst ihn nachher zurückbekommen, und das wird auch geschehen. Ich habe die ganze Zeit über mit offenen Karten gespielt. Wenn hier jemand versucht, einen hinters Licht zu führen, dann doch du!«
Sie wehrte sich gegen ihn, aber sie hatte ihm nichts entgegenzusetzen. Zu guter Letzt drückte er sie einfach zurück auf die Matratze. Sein Gesicht befand sich direkt über dem ihren. »Hör jetzt auf! Sofort!«
Carol fing an zu wimmern, und Chloe kam ins Zimmer geeilt.
»Was ist hier los?«
»Sie ist hysterisch.«
Chloe gab ihr eine Injektion, und keine Minute später war Carol schon wesentlich ruhiger. Sie fühlte sich wie betäubt, und nichts spielte mehr eine große Rolle.
»Gerlinde wird dir das Baby bald bringen«, versicherte ihr Chloe. »Aber erst musst du ein bisschen schlafen, okay?«
André sagte nichts, sondern beobachtete sie nur, den Blick voller Misstrauen.
Sie nickte, und ihre Worte klangen bereits undeutlich: »Und kann ich ihn morgen haben? Bitte. Nur morgen!?«
»Ja«, erwiderte Chloe. »Und danach sehen wir
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