Kind der Nacht
vorzog, entweder zu knien oder sich hinzuhocken, solange zwei von ihnen sie festhielten.
»Genauso haben wir es seinerzeit auch gemacht«, sagte Chloe, indem sie Carol in eine Hockstellung hob.
»Wann war das denn?«, brachte Carol stöhnend hervor.
»Anfang des 19. Jahrhunderts. Ich wurde 1803 hier in Bordeaux geboren.«
»Hattest du auch Kinder?« Schweiß und Tränen liefen Carol übers Gesicht. Jeanette wischte ihr beides weg.
»Ja, zehn.«
»Zehn? Du hast all dies zehnmal durchgemacht?«
»Zwölfmal, aber zwei meiner Kinder wurden tot geboren.«
»Und die anderen?«, stieß Carol hervor.
Jemand sagte »Atme!«, und sie fing an zu hecheln.
»Die anderen haben ihr Leben gelebt, die einen nur kurze Zeit, die anderen länger, und dann starben sie.«
»Und dein Mann?«
»Er ist ebenfalls gestorben.«
Jeanette massierte Carols unteren Rücken, aber sie bekam es kaum mit. Die Wehen kamen jetzt alle dreißig Minuten.
»Kleines«, meinte Gerlinde und gab ihr einen Kuss auf die Wange, »ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, aber wir müssen jetzt gehen. Die Sonne geht auf. Tut mir Leid!«
»Ihr geht jetzt? Ihr alle? Das könnt ihr nicht machen!«
»Der Arzt ist unten. Er wird bei dir bleiben, bis es vorüber ist«, sagte Jeanette. »Wenn du möchtest, könnte Julien auch dableiben. Er ist der Einzige von uns, der es erträgt, tagsüber auf zu sein. Soll ich ihn fragen?«
»Bitte!«, meinte Carol. Es war alles gut gelaufen, weil sie sich nicht allein gelassen fühlte. Nun bekam sie es mit der Angst zu tun.
»In dem Fläschchenwärmer hier steht ein Fläschchen Blut. Es hat bereits Körpertemperatur. Sollte das Baby vor Sonnenuntergang kommen, musst du ihm das geben. Keine Sorge, es gibt schon keine Probleme mit der Verdauung. Und denk dran, du darfst ihm nicht die Brust geben.«
Carol nickte zum Zeichen, dass sie verstand. Einer nach dem anderen ließen sie sie allein. »Kopf hoch, Schätzchen. Es wird vorüber sein, ehe du es überhaupt merkst, und dann hast du einen schreienden kleinen Blutsauger, um den du dich kümmern musst.« Gerlinde küsste sie, und Carol lachte.
»Vergiss nicht, das Kind darf nur Blut bekommen«, ermahnte Karl sie noch einmal und strich ihr sanft übers Gesicht.
Chloe nahm sie in den Arm. »Es wird schon gut gehen. Nichts deutet auf Komplikationen hin. Das sagt der Arzt, und meine Erfahrung sagt es mir auch. Und du weißt ja, davon habe ich jede Menge.«
In Jeanettes Augen standen zartrosa angehauchte Tränen, als sie Carol umarmte. Und Carol stellte fest, dass sie ebenfalls weinte. Der stabförmige Kristall lag auf dem Tischchen neben dem Bett; die ganze Nacht lang hatte sie ihn immer wieder angefasst, weil er sie einfach an Jeanette erinnerte. Nun nahm sie ihn wieder in die Hand.
Die anderen gingen, damit sie mit André allein sein konnte. Er legte ihr die Hand unters Kinn. »Wenn ich könnte, würde ich bleiben. Die anderen auch.«
»Ich weiß«,, sagte sie weinend.
Er bedeckte ihr Gesicht mit Küssen, küsste sie dann auf die Lippen. Carol schlang ihm die Arme um den Hals, wollte ihn nicht gehen lassen. »Halt mich fest«, schluchzte sie, und ebendies tat er, so lange, bis durch einen bleistiftdünnen Spalt in den Vorhängen ein Sonnenstrahl durch die getönten Scheiben drang. Er machte sich von ihr frei und wich, ihr einen Handkuss zuwerfend, zur Tür zurück.
Carol war etwa anderthalb Minuten allein. Dann trat Julien ein. Als Erstes zog er den Spalt in den schweren Vorhängen ganz zu. Seine Bewegungen waren langsam und abgehackt. Er löschte alle Lichter bis auf eines neben dem Bett und nahm in der dunkelsten Ecke des Raumes auf einem Stuhl Platz. »Der Doktor wird gleich nach dir sehen.«
»Danke, dass du bei mir bleibst.«
»Ich habe noch nie einer Geburt beigewohnt. Es wird ein Erlebnis werden«, entgegnete er. »Für uns beide.«
Die nächste Wehe kam, und sie bemühte sich, das Atmen nicht zu vergessen. Stöhnend und in kurzen, schnellen Atemzügen keuchend, klammerte sie sich an der obersten Stange am Fußende des Bettes fest, bis der Schmerz nachließ.
Gegen drei Uhr nachmittags stand Carol kurz vor dem Kollaps. Beinahe hoffte sie, das Kind werde einfach sterben, oder auch sie selbst oder am besten gleich beide, und zwar schnell. Doch gerade als sie bereit war, das Handtuch zu werfen, kam er zur Welt.
Er war winzig, rot, verschrumpelt und voller Schleim. Der Doktor säuberte ihn, wischte ihm Mund und
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