Kind der Nacht
diesem dunklen, schmutzigen, ungeheizten Ort wollte sie nicht bleiben. Außerdem war er nicht sicher. Sie hatte keine Ahnung, ob es überhaupt einen Ort gab, an dem sie in Sicherheit waren, aber aus Frankreich herauszukommen wäre schon mal ein erster Schritt in diese Richtung. »Nur eine kleine Pause, mehr können wir uns nicht erlauben«, erklärte sie dem Baby. »Bald sind wir in Le Havre.«
Wenn sie nur etwas Glück hatte, was bislang nicht der Fall gewesen war, würde sie jemand direkt bis zur Fähre mitnehmen. Und dann? Sie konzentrierte sich darauf, sich die Füße zu rubbeln.
Sie zog dem Kind die schmutzige Windel aus und die saubere, trockene an, alles im Dunkeln, nur nach Gefühl. Die schmutzige Windel warf sie weg: Sie konnte sie nicht waschen, und mitschleppen wollte sie sie auch nicht. Sie stand auf, krabbelte durch das Fenster nach draußen und versuchte wieder zur Autobahn zu gelangen.
Sie hatte die Auffahrt beinahe erreicht, als ein Wagen mit quietschenden Reifen über die Ausfahrt jagte und auf sie zuschoss - die silberfarbene Limousine!
Carol rannte, durch den Schnee stolpernd, auf die Auffahrt zu, aber der Wagen war bereits neben ihr. André sprang heraus.
Sie versuchte, in die andere Richtung davonzulaufen, aber er holte sie ein. »Lass mich los!«, schrie sie. »Wenn
du ihn mir wegnimmst, bringe ich dich um!«
Sie wehrte sich, als er sie auf den Rücksitz stieß. Gerlinde und Karl saßen dort, beide wirkten sie bleich und erregt.
Tränen der Enttäuschung liefen Carol übers Gesicht. Sie drückte das Kind an sich. »Ihr müsst mich schon töten, wenn ihr ihn wollt, denn ohne ihn will ich nicht mehr leben.«
Sie schluchzte, und niemand sagte ein Wort. Schließlich wischte sie sich die Augen. »Wie habt ihr mich diesmal gefunden?«
»Der Mann an der Tankstelle! Du hast ihn gefragt, wie weit es noch bis Le Havre ist«, sagte Karl. Aus roten Augen funkelte sie erst ihn, dann Gerlinde feindselig an. Dann wandte sie sich André zu. Auf seinem maskenhaften Gesicht zeigte sich keine Regung.
»Lass uns gehen, bitte!«, weinte sie. »Ich flehe dich an, auch wenn ich weiß, dass du das nicht ausstehen kannst. Wenn es sein muss, gehe ich auch auf die Knie. Bitte, wenn du auch nur einen Funken Mitgefühl in dir hast, dann bitte ich dich darum.«
»Ich kann nicht«, sagte er, ohne laut zu werden, mit gepresster Stimme.
»Dann mach mich zu einem Vampir. Ich werde ihn nicht verlassen. Ich tue alles, um bei ihm zu bleiben.«
»Das geht auch nicht.«
Sie war wie vor den Kopf gestoßen. »Aber warum denn? Du hast doch gesagt, dass du es tun würdest, ich müsste mich nur entscheiden. Nun, und jetzt habe ich mich entschieden.«
»Wir können dir nicht mehr trauen. Ich kann dir nicht trauen. Du hast mich schon zu oft enttäuscht.«
»Ich soll dich enttäuscht haben? Wovon redest du eigentlich?«
»Deine Lügen machen dich zu einer Gefahr.«
»Gerlinde, hilf mir!«, wandte Carol sich flehend an das Mädchen mit dem roten Haar.
»Schätzchen, ich würde ja gern, wenn ich könnte. Aber wir sind alle übereingekommen, dass du eine Gefahr für uns darstellst.« Sie schaute weg.
André nahm den Telefonhörer auf und sagte etwas auf Französisch zum Chauffeur. Sie befanden sich wieder auf der Autobahn, unterwegs in Richtung Fähre.
»Wo bringt ihr mich hin?«
»Wir bringen dich auf das früheste Schiff, das abfährt, geben dir ein bisschen Geld, und dann kannst du gehen, wohin du willst«, sagte Karl.
»Nein! Ich gebe ihn nicht her. Eher töte ich ihn, bevor ich ihn euch überlasse!«
»Karl!« André nickte ihm zu. Die beiden schnappten Carol und hielten sie fest. Sie wehrte sich erbittert, schrie und versuchte zu beißen, aber André hatte ihr Haar gepackt und bog ihr den Kopf nach hinten. Gerlinde wickelte das Baby aus und nahm es ihr weg.
Das Kind jammerte, und Carol schrie und heulte.
Am Hafen stieg Karl aus und erstand ein einfaches Ticket, und Gerlinde verschwand mit dem Baby im Waschraum, um es zu füttern und die Windeln zu wechseln.
Carol saß mit André allein im Wagen. Sie konnte nicht aufhören zu schluchzen. »Ich verspreche dir, dass ich nichts tun werde, um irgendeinem von euch zu schaden. Bitte, tu mir das nicht an. Mach mich zu einer von euch, damit ich bleiben kann. Ich tue alles, was du willst. Alles. Bitte!«
»Es liegt nicht mehr in meiner Macht«, erwiderte er. »Die anderen haben jetzt auch ein Wörtchen mitzureden.
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