Kind der Prophezeiung
sah Garion an und winkte ihn heran. Garion kam herbei und blieb vor dem König von Cherek stehen.
»Du bist ein aufmerksamer junger Mann, Garion«, sagte er ernst. »Du hast mir heute einen Dienst erwiesen, und du kannst dich jederzeit um einen Gegendienst an mich wenden. Du sollst wissen, daß Anheg von Cherek dein Freund ist.« Er streckte die rechte Hand aus, und Garion ergriff sie ohne nachzudenken.
König Anhegs Augen weiteten sich plötzlich, sein Gesicht wurde blasser. Er drehte Garions Hand um und blickte auf das silbrige Mal in seiner Handfläche.
Dann waren auch Tante Pols Hände da, die Garions Finger entschlossen aus Anhegs Griff lösten.
»Dann ist es also wahr«, sagte Anheg leise.
»Genug«, sagte Tante Pol. »Bring den Jungen nicht durcheinander.« Sie hielt Garions Hand noch immer fest in der eigenen.
»Komm jetzt, mein Lieber«, sagte sie. »Es ist Zeit, zu packen.« Damit drehte sie sich um und führte ihn aus dem Zimmer.
Garions Gedanken überschlugen sich. Was war an dem Mal in seiner Hand, das Anheg so verblüfft hatte? Das Geburtsmal war, wie er wußte, erblich. Tante Pol hatte ihm einmal erzählt, daß die Hand seines Vaters das gleiche Zeichen aufgewiesen hatte, aber wieso sollte das Anheg interessieren? Das ging zu weit. Sein Bedürfnis, alles zu wissen, wurde unerträglich. Er mußte von seinen Eltern wissen, von Tante Pol – von allem. Wenn die Antworten weh taten, dann mußte es eben weh tun. Wenigstens hatte er dann Klarheit.
Der nächste Morgen war klar, und sie verließen den Palast frühzeitig, um zum Hafen zu gelangen. Sie trafen sich im Hof, wo die Schlitten warteten.
»Es ist nicht nötig, daß du bei dieser Kälte mit hinauskommst, Merel«, sagte Barak zu seiner in Pelze gehüllten Frau, als sie neben ihm in den Schlitten stieg.
»Es ist meine Pflicht, meinen Gatten sicher zu seinem Schiff zu begleiten«, antwortete sie mit einem arroganten Heben des Kinns.
Barak seufzte. »Wie du willst.«
Mit König Anheg und Königin Islena an der Spitze stoben die Schlitten aus dem Hof und in die verschneiten Straßen.
Die Sonne schien hell, und die Luft war frisch. Garion fuhr schweigend mit Silk und Hettar.
»Warum so still, Garion?« fragte Silk.
»Hier ist so vieles geschehen, das ich nicht verstehe«, erwiderte Garion.
»Niemand kann alles verstehen«, sagte Hettar knapp.
»Chereker sind ein gewalttätiges und launisches Volk«, sagte Silk. »Sie verstehen nicht einmal sich selbst.«
»Es sind nicht nur die Chereker«, sagte Garion, mühsam nach Worten suchend. »Es sind auch Tante Pol und Meister Wolf und Asharak – alle. Die Dinge geschehen zu schnell. Ich kann sie nicht alle zusammenbringen.«
»Ereignisse sind wie Pferde«, sagte Hettar. »Manchmal rennen sie davon. Aber nachdem sie eine Weile gerannt sind, gehen sie auch wieder langsam. Dann ist Zeit, alles zusammenzusetzen.«
»Ich hoffe es«, sagte Garion zweifelnd und verfiel wieder dem Schweigen.
Die Schlitten bogen um eine Ecke auf den weiten Platz vor Belars Tempel. Wieder war die blinde Frau dort, und Garion stellte fest, daß er sie halbwegs erwartet hatte. Sie stand auf den Stufen des Tempels und hatte ihren Stock erhoben. Unerklärlicherweise blieben die Schlittenpferde trotz des Drängens der Kutscher stehen und zitterten.
»Heil Euch, Großer«, sagte die blinde Frau. »Ich wünsche Euch Glück auf Eurer Reise.«
Der Schlitten, in dem Garion saß, war nahe dem Tempel stehengeblieben, und es schien, als spräche die alte Frau zu ihm.
Fast ohne zu überlegen, antwortete er. »Danke. Aber warum nennst du mich so?«
Sie ignorierte die Frage. »Denkt an mich«, bat sie mit einer tiefen Verbeugung. »Denkt an Martje, wenn Ihr Euer Erbe antretet.«
Es war das zweite Mal, daß sie dies sagte, und Garion verspürte eine brennende Neugier. »Welches Erbe?« fragte er.
Aber Barak brüllte vor Wut und versuchte gleichzeitig, seinen Pelz abzuwerfen und sein Schwert zu ziehen. König Anheg kletterte ebenfalls vom Schlitten. Sein kantiges Gesicht war blaß vor Wut.
»Nein!« rief Tante Pol scharf. »Das werde ich regeln.« Sie stand auf. »Hör mir zu, Hexe«, sagte sie mit klarer Stimme und zog ihre Kapuze ab. »Ich glaube, du siehst zuviel mit deinen blinden Augen. Ich werde dir einen Gefallen tun, damit du nicht länger von der Dunkelheit und den störenden Visionen, die sie hervorbringt, geplagt wirst.«
»Streck mich nieder, wenn du willst, Polgara«, sagte die alte Frau. »Ich sehe, was ich
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