Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
Kind.«
»Hat sie nie erwähnt, warum sie sich getrennt hatten?«
»Nein. Aber ich bin mir sicher, dass es nicht ihre Schuld war. Das habe ich ihr auch gesagt. Sie ist eine gute Partie. Sind Sie verheiratet, Detective?«
Die Frage war, so hoffte ich, an mich gerichtet. Ich fühlte mich peinlich berührt und hatte Mitleid mit ihr.
»Ja.«
»Schade. Sie ist so ein nettes Mädchen.«
Ich stieß mich von der Wand ab und mischte mich in das Gespräch ein.
»Ist Mr. Gregory hier gewesen, nachdem sie sich getrennt hatten?«
»Nein, war er nicht.«
»Können Sie uns sagen, wo oder wie wir ihn erreichen können?«
»Ja, ich glaube schon.« Sie erhob sich und schwankte leicht. »Sie haben zusammengewohnt, bevor sie wieder nach Hause kam. Ich hole mein Adressbuch.«
»Danke, ist schon gut.« Ich hob die Hand, um sie aufzuhalten. Wir kannten die Anschrift bereits, und die Kollegen hatten festgestellt, dass er nicht zu Hause war. »Ich dachte nur, ob Sie vielleicht noch andere Aufenthaltsorte kennen. Wo er gern hinging, Freunde, Familie, bei denen er sein könnte?«
»Ach so, nein, tut mir leid.« Sie setzte sich wieder auf den Stuhl, der davon kaum Notiz zu nehmen schien. »So gut kenne ich ihn auch wieder nicht. Eigentlich kannte ich ihn gar nicht.«
»In Ordnung.«
Einen Versuch war es wert gewesen. Sei es aus Stolz oder Verlegenheit, Vicki Gibson hatte ihrer alten Mutter den missbräuchlichen Teil ihrer Beziehung vorenthalten. Auch das war keineswegs überraschend. Die Situation, in der sie sich befand, machte sie an sich nicht schwach, befindet man sich aber in einer solchen Lage, fühlt man sich in der Regel zwangsläufig so, und Menschen weigern sich häufig, dieses Gefühl noch zu verstärken, indem sie es sich eingestehen. Menschen, die dringend Hilfe brauchen, befinden sich meistens an dem Punkt, wo es ihnen am schwersten fällt, das zuzugeben.
Ein Trost war das zwar nicht, aber wir konnten zumindest garantieren, dass Tom Gregory mit dem, was er getan hatte, nicht davonkommen würde. Dieses Mal nicht. Auch wenn er im Augenblick von der Bildfläche verschwunden war, würde das nicht ewig dauern.
Ich war in Gedanken bereits weiter und eigentlich schon fast zur Tür hinaus, als ich die Verzweiflung bemerkte, mit der Carla Gibson mich ansah, als hätte sie auf meiner Stirn mitlesen können. Gerade wollte ich mich entschuldigen, als sie sagte: »Vicki war so stark.«
Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass sie von Gregory sprach – und damit auf den Punkt der Unterhaltung zurückkam, an dem Laura die Beziehung der beiden als wechselhaft bezeichnet hatte. Sie wollte nicht glauben, dass ihr kleines Mädchen etwas so Schreckliches still ertragen hatte. Und ich verstand, dass es gar nicht um mich und meine Unaufmerksamkeit ging, sondern darum, dass Carla Gibson trotz des Medikaments plötzlich wieder präsent war.
»Sie war stark«, sagte ich und sah sie an. Obwohl es gar nicht um Stärke geht, weil das wie ein Urteil über die erscheinen kann, die nicht gehen, sagte ich noch einmal: »Sie war wirklich sehr stark.«
Und ich dachte:
Wir werden dich kriegen, Mr. Gregory.
3
A uf dem Rückweg die Treppe hinunter gingen Laura und ich alles noch einmal durch.
»Na, bist du dir deiner Sache sicher?«, fragte sie.
»Mehr denn je. Du etwa nicht?«
Für mich war alles sonnenklar. Menschen werden nicht ohne Grund umgebracht. Es gibt immer Ursache und Wirkung. Und die Fakten sprachen in diesem Fall für sich. Weder schwerer Raubüberfall noch ein Sexualdelikt. Blieb also, bei Lichte betrachtet, nur übrig, dass Vicki aus Rache umgebracht worden war – aus Leidenschaft, jedenfalls wenn man deren abgestandene, hässliche Kehrseite einbezog. Tom Gregory war vorbestraft. Wenn nicht er, wer dann? Die Wahrscheinlichkeit war ohnehin hoch, und sie wurde immer größer.
Laura seufzte.
»Scheint ziemlich eindeutig zu sein, zugegeben. Dann machen wir damit erst mal weiter.«
»Damit machen wir weiter. Genau. Ins Blaue phantasieren, Laura.«
»Sei still, Hicks.«
»Pass auf. Er hat ein Motiv. Er hat die Gelegenheit. Er ist vorbestraft. Und er ist nicht aufzufinden.« Ich verschränkte die Finger und zog sie wieder auseinander. »Bis heute Abend ist der Sack zu.«
»Klar.«
»Ich höre ein Aber.«
»Aber … irgendwie beschleicht mich das Gefühl, dass es so nicht ist. Sag’s nicht: Ich weiß, dass du es nicht ausstehen kannst, wenn ich das Wort ›fühlen‹ in den Mund nehme. Aber es stimmt. Hast du nicht
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