Kind des Glücks
Wert zu lernen. Man hat die Werkzeuge in der Hand, mit denen man Bewußtsein, Körper und Geist entwickeln kann, doch bis man sein eigenes inneres Licht findet, bis man sich ein eigenes Bild von dem macht, was man als erwachsener Angehöriger der Art werden will, bis man seine wahren intellektuellen Leidenschaften gefunden hat, bis zu diesem Punkt wäre das ernsthaftere und spezialisierte Lernen, würde es dem noch unreifen Geist auferlegt, dasselbe, als würfe man Perlen vor die Säue.
Was nicht heißen soll, daß meine Freunde und ich nicht langsam eine ebenso wichtige Lektion lernten, während unsere Schulzeit in einem endlosen Sommer des Vergnügens langsam verging. Einige lernten es schneller als andere, und ich sollte dieses Satori erst mit achtzehn begreifen – die Lektion, die unsere Eltern, unsere Lehrer und die ganze Gesellschaft so klug waren, uns selbst in unserer eigenen Zeit lernen zu lassen: Das schöne Leben eines Jugendlichen, voller Vergnügen, Drogen, Erotik, Sport und fröhlichen Abenteuern, frei von Arbeit, mühsamen Studien oder Schwierigkeiten, wird nach einiger Zeit genauso eintönig, als würde man sich ausschließlich von den Pasteten eines Meisterbäckers ernähren. Durch ein Zuviel dieses endlosen Vergnügens lernt man schließlich die Langeweile kennen, und sobald dieser karmische Zustand allein durch eigene Erfahrung erreicht ist, ist man bereit, den nächsten Quantensprung der spirituellen Entwicklung anzugehen: das Wanderjahr.
Natürlich hatte ich in der Akademie einiges über die Geschichte des Wanderjahrs gelernt, und ich hatte von frühester Kindheit an gewußt, daß auch ich eines Tages an der Reihe sein würde, das Leben eines Kindes des Glücks zu führen.
Die ersten eindeutigen Aufzeichnungen über das Wanderjahr als bewußte Etappe der menschlichen Entwicklung stammen aus dem Mittelalter Europas, wo die Studenten – damals leider nur Männer – zu Fuß auf den Straßen und Wegen wanderten, entweder als finanziell unabhängige Kinder des Glücks oder als Bettler, ehe sie sich für ihre Studien auf den Universitäten einschrieben. Einige Fachleute verweisen allerdings auf ältere und umfassendere Quellen wie zum Beispiel die Wandermönche von Hind und Han, die Namenssuche der angehenden Indianerkrieger, die Jahre, in denen die Massai-Jungen vor den Pubertätsriten von Stamm zu Stamm wandern, die Wanderschaft der Aborigines und so weiter.
Wie dem auch sei, das Wanderjahr schien mit dem Aufkommen des industriellen Zeitalters auf der Erde eine Weile zu verschwinden; damals wurde die spirituelle Erziehung Jugendlicher als lästige Zeitverschwendung im Lichte dessen betrachtet, was man für eine praktische ökonomische Notwendigkeit hielt, nämlich die arbeitsscheuen Jugendlichen in produktive Mitglieder der Arbeitswelt zu verwandeln, indem man sie so schnell wie möglich und ohne Unterbrechung durchs Klassenzimmer über die Universität an ihren Arbeitsplatz schleuste.
Trotzdem tauchte das lange unterdrückte Wanderjahr in der Morgendämmerung des Raumzeitalters in der ziemlich chaotischen Form der Jugendrebellion gegen eben dieses Konzept wieder auf. Leider erhielten diese Kinder des Glücks alles andere als eine von der Gesellschaft umsichtig gewährte Periode der Wanderschaft und der Freiheit zwischen der Schule und den ernsthaften Studien, als Möglichkeit, ihre Berufung und ihren Eigennamen zu entdecken; vielmehr flohen sie häufig in viel zu zartem Alter aus dem Haus ihrer Eltern oder hatten sich auf der anderen Seite bereits für ernsthafte Studien an der Universität eingeschrieben, ehe sie bemerkten, daß sie nicht wußten, wer sie waren, um dann in medias res in einer karmischen Krise und in großer Verwirrung abzubrechen.
Das unglückliche Resultat waren Unruhen, zornige Konflikte zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, Konfrontationen in dem spirituellen und dem sozialen Bereich, Konflikte zwischen der universellen Suche nach spiritueller Identität und den Beschränkungen der institutionalisierten Bildung, zwischen endokrinen Zwängen und staatlicher Ordnung. Viele Ausbildungen wurden, nachdem sie mittendrin abgebrochen wurden, nie ordentlich zu Ende geführt; andere wurden nicht einmal aufgenommen, und jene, die gehindert wurden, je das Leben eines Kindes des Glücks zu führen, erwachten oft in ihren mittleren Jahren wie aus einer Trance und stellten fest, daß sie sich selbst völlig fremd waren.
Abermals wurde das Wanderjahr sozial geächtet, und die
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