Kinder der Apokalypse
er konnte sich vorstellen, wie der hier ausgesehen hätte, wenn er weiter gepflegt worden wäre. Es machte ihn zornig, an so viele vergessene Leben zu denken, aber er ging davon aus, dass der sicherste Platz für die Toten die Erinnerungen waren, die man an sie in seinem Herzen bewahrte.
Two Bears brachte ihn zu den Felsen, in einen kleinen Teil des Friedhofs, der durch eine gerissene und aufgeworfene Asphaltstraße vom Rest getrennt war. Sie strichen durch Unkraut und Gras und gingen an Marmor- und Granitsteinen vorbei zu zwei massiven Eichen. Ein schlichter, schmuckloser Grabstein stand vor den Bäumen.
Der Hüne blieb stehen und deutete darauf. Logan starrte die Schrift an. Dort stand:
MARION CASE
Geboren 2. September 1948
Gestorben 21. März 2018
»Wer ist Marion Case?«, fragte Logan.
Zur Antwort hielt Two Bears seine Hand vor den Stein, und die alte Schrift schmolz dahin, während eine neue erschien:
NEST FREEMARK
Geboren 8. Januar 1939
Gestorben 19. Juli 2062
SCHNELLLÄUFERIN
»Als die Kriege eingesetzt hatten, tarnte ich diesen Stein, um ihn vor denen zu verstecken, die nicht einmal die Toten in Frieden ruhen lassen«, sagte der Sinnissippi-Indianer leise. »Selbst in ihren Gebeinen liegt noch große Macht, eine Macht, die nicht in die Hände der falschen Geschöpfe fallen sollte.«
Logan warf einen Blick auf das Grab. »Was bedeutet die Inschrift? Schnellläuferin?«
»Sie war Olympiasiegerin im Mittelstreckenlauf. Sogar gleich mehrfach. Obwohl es nicht ihr wichtigstes Erbe war, hatte es eine besondere Bedeutung für sie. Ich kam zurück, nachdem sie gestorben war, begrub sie und ließ diesen Stein aufstellen. Ich wusste, dass ihre Aufgabe noch nicht beendet war. Aber hier gehört sie hin. Nimm Platz.«
Der Indianer setzte sich im Schneidersitz auf die Platte vor dem Grab und verschränkte die Arme. Logan sah sich um, dann tat er es ihm nach.
»Was jetzt?«
O’olish Amaneh antwortete nicht. Stattdessen legte er einen Finger an die Lippen. Dann schloss er die Augen und wurde ganz reglos. Logan beobachtete ihn, wartete darauf, dass etwas geschah. Gleich darauf begann der Hüne leise in einer Sprache zu rezitieren, die Logan nicht vertraut war und bei der es sich wohl um die Sprache seines Volkes handelte. Die Rezitation änderte die Tonhöhe, füllte die Stille mit ihren rollenden Kadenzen und einer jähen Punktuation. Logan griff nach seinem Stab und hielt ihn vor sich, auf alles gefasst. Er hatte keine Ahnung, was er erwarten sollte. Er machte sich Sorgen, dass die Rezitation Wesen anlocken könnte, die er lieber gemieden hätte.
Aber nichts erschien, nicht einmal die Fresser, die er vorhin gesehen hatte. Nach einem Moment der Nervosität begann er sich zu entspannen.
Winzige Lichter erhoben sich aus dem Boden, aus dem Grab selbst, und tanzten vor ihm in der Luft. Der Tanz ging weiter, die Lichter drehten sich und wirbelten und bildeten komplizierte Muster. Der Tanz wurde hektisch, und plötzlich flackerten die Lichter grellweiß auf, fielen wie Steine zu Boden und vergingen. Two Bears’ Rezitation war zu Ende. Der Hüne saß wieder reglos da, sein Atem ging schnell und angestrengt.
Logan blinzelte, um besser sehen zu können, noch geblendet von der vorherigen Helligkeit. Als seine Augen sich an die erneute Dunkelheit gewöhnt hatten, schaute Two Bears ihn an. »Es ist vollbracht. Sie hat uns gegeben, was wir brauchen.«
Er griff nach unten, nahm ein paar weiße Stöckchen vom Grab und steckte sie in die Tasche, bevor Logan genau erkennen konnte, was sie waren. Dann stand er auf und ging davon. Wieder folgte Logan gehorsam.
Sie kehrten zum Feuer und zum Picknicktisch zurück, wo sie sich gegenübersetzten. Die Hitze des Feuers war nicht geringer geworden, obwohl keiner dagewesen war, um Holz nachzulegen. Logan sah sich auf der Lichtung um. Alles war noch so, wie sie es verlassen hatten.
»Du wirst das Kind folgendermaßen finden«, sagte Two Bears plötzlich.
Er legte ein Stück schwarzes Tuch auf den Tisch und breitete es aus. Als er die Falten geglättet hatte, griff er in die Tasche, holte die weißen Stöckchen heraus und legte sie vor Logan hin.
Die weißen Stöckchen waren Menschenknochen.
»Die Knochen von Nest Freemarks rechter Hand«, sagte O’olish Amaneh leise. »Nimm sie.«
Logan fragte ihn nicht, wie er die Knochen aus dem Sarg bekommen hatte oder von Nest Freemarks Skelett. Es gab Geheimnisse, die man lieber nicht ergründete. Vielmehr tat er, was
Weitere Kostenlose Bücher