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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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derjenigen trennte, auf der die Zitadelle stand. Die Felsen waren rutschig. Fünfzehn Meter tiefer verjüngte sich die Spalte zu einem Felsenschlitz, der noch einmal fünfundzwanzig bis dreißig Meter abfiel wie das Innere eines Felsenschlots. Die Breite betrug hier nur eineinhalb Meter, und Kate sah im widerscheinenden Licht der Fackeln von oben einen relativ flachen Felsvorsprung.
    Sie überlegte nicht. Sie sprang.
    Ihre billigen rumänischen Schuhe glitten über den Fels, und sie stellte fest, daß ihr ein Teil des Absatzes fehlte. Weggeschossen, als wir die Straßensperre durchbrochen haben. Sie rutschte auf den schmalen Abgrund zu.
    Unter Anwendung einer Technik, die Tom ihr während einer ihrer wenigen gemeinsamen Kletterpartien beigebracht hatte, spreizte sie alle Glieder auf der steilen Felswand, damit ihr ganzer Körper Reibungswiderstand erzeugte.
    Sie hörte auf zu rutschen.
    Dreißig Meter rechts von ihr ragte die Brücke über die Spalte auf und verband die Treppe und den Weg zur Zitadelle. Wachen schritten auf den hallenden Holzdielen hin und her.
    Kate tastete sich nach rechts und suchte mehr intuitiv als durch Seh- oder Tastsinn Halt für Hände und Füße. Einmal löste sich ein Stein, und sie hielt den Atem an, während Geröll polternd in die Spalte fiel, die an dieser Stelle mindestens neun Meter breit war. Ihr kam das Geräusch der fallenden Steine schrecklich laut vor, aber keiner der Schatten oben auf der Brücke blieb stehen oder rief etwas.
    Kate kroch unter die Brücke und kletterte über Stützbalken so dick wie Baumstämme. Sie hätte hinaufklettern können, aber das hätte ihr nichts gebracht. Sie konnte die Schritte der Wachen sechs Meter über sich hören, ebenso den Gesang der Strigoi.
    Kate kletterte weiter nach rechts und sorgte dafür, daß sie stets mit drei Stellen der Felswand Kontakt hatte, wie Tom es ihr beigebracht hatte, bis die rauhe Felswand auf einmal zu Ende war und sie in das Flußtal selbst hinabsah.
    Unter Kates rechtem Fuß fiel die Felswand mehr als dreihundert Meter tief in die Dunkelheit ab. Die Fackeln erhellten nur Bruchstücke der Steinmauer vor ihr, aber sie stellte fest, daß die Südmauer der Zitadelle an dieser Stelle direkt aus der Felswand wuchs.
    Dieses Ende des Schlosses war nicht breit, höchstens fünfunddreißig Meter, aber die Mauer war steil, schien an manchen Stellen überzuhängen, und oben auf den Zinnen knisterten Fackeln. Die Steine hier gehörten zum ursprünglichen Gebäude, sie waren an manchen Stellen erodiert, vom Eis rissig geworden und von Unkraut und stellenweise sogar von kleinen Büschen überwuchert.
    Kate sah sofort, wenn sie an einer Stelle dieses Abschnitts abrutschte, würde sie keinen Halt mehr finden, bis sie von der Mauer in die Leere der Schlucht stürzte. Sie sah auf die Uhr.
    00:14
    Gerade noch Zeit genug, zum Finale auf die Terrasse zu kommen.
    Sie schüttelte den Kopf. Ohne nach unten zu sehen, tastete sich Kate an der vertikalen Mauer von Schloß Dracula entlang und begann den Aufstieg in einer stetigen, krabbengleichen Weise.

Kapitel 39
     
    Die Abschlußprüfung von Kates kurzlebiger Bergsteigerausbildung bei Tom war eine Kletterpartie auf den dritten Flatiron gewesen, eine gigantische Kalksteintafel, die über Boulder aufragte wie eine gebrochene, schräggestellte Gehwegplatte. Diese Kletterpartie hatte fast einen ganzen Samstagvormittag erfordert; Kate überlegte sich, daß sie für diesen Aufstieg maximal fünf Minuten Zeit hatte.
    Die Schloßmauer wies mehr Möglichkeiten auf, Halt für Hände und Füße zu finden als die Flatirons. Kate glitt weiter nach rechts, wurde manchmal langsamer, hielt aber nie wirklich inne. Sie erinnerte sich von ihren Bergsteigerausflügen mit Tom, wenn sie ihm beim Klettern zugesehen hatte, daß Geschwindigkeit manchmal fehlende Reibung wettmachen konnte, daß man allein durch Schnelligkeit an einer Felswand haften konnte wie eine Fliege, obwohl es nicht genügend Reibungswiderstand gab, um einen Kletterer zu halten, wenn er in seinen Bewegungen innehielt.
    Kate hielt nicht inne.
    Fünfzehn Meter weiter veränderte sich die Neigung der Mauer und wurde stellenweise tatsächlich vertikal und manchmal noch schlimmer als vertikal. Die Fackeln von oben spendeten etwas Licht, aber was wie ein vielversprechender Halt aussah, entpuppte sich nicht selten als millimeterdünner Absatz bröckelnden Gesteins, ein scheinbar solider Griffpunkt für die Hand erwies sich als Unkraut mit einer Wurzel

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