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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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von vier Zentimetern. Aber Kate arbeitete sich weiter voran, sie kletterte, wenn es sein mußte, um ein Hindernis zu überwinden, und stieg widerwillig tiefer, wenn sie unter einem Überhang hindurch oder einen glatten Abschnitt der Mauer umgehen mußte. Einmal spürte sie, wie die Klinge des albernen kleinen Dolchs ihr in die Seite stach, aber es wäre gefährlich gewesen, den Körper so zu drehen, daß sie das Messer ergreifen und wegwerfen konnte. Sie ließ sich also davon stechen und kletterte weiter.
    Es war ein Fehler, daß sie auf halbem Wege dachte, es ginge schneller, wenn sie einem zehn Zentimeter breiten Sims folgte, wo Eis den Stein aufgebrochen hatte. Einen Augenblick schien es schneller zu gehen, aber dann brach der Sims mit einem Geräusch von bröckelndem Sand unter ihr weg, und sie rutschte an der
    Wand hinab, ohne auch nur an einer Stelle vollen Kontakt zu haben, ohne Angriffspunkte für die Hände, und die Spitzen ihrer billigen Schuhe rutschten nutzlos über den Stein.
    Kate machte die Augen zu und krümmte die Finger zu Klauen. Ihre rechte Hand glitt in eine Spalte, wo ein vergessenes Erdbeben einen Stein um einen Zentimeter versetzt hatte, drei ihrer Fingernägel brachen ab, aber sie ließ die Finger gekrümmt und hielt sich fest, wobei ihr ganzes Gewicht an drei Fingern ihrer gefühllosen rechten Hand hing.
    Kate tastete die Wand mit der linken Hand ab, aber sie fand keinen Halt. Ihre Zehen schabten, ohne einen Sims oder eine Vertiefung zu finden, über die Mauer. Dann fiel ihr Toms Technik ein, Zehen und Handflächen festzudrücken und einfach Reibungswiderstand als Ausgleich der Schwerkraft zu erzeugen.
    Sie zog die Knie hoch, preßte die Füße an den fast vertikalen Stein, drückte die linke Handfläche fest auf das Gemäuer und konnte so ihre verkrampfte rechte Hand ein wenig entlasten. Sie keuchte inzwischen so laut, daß sie fürchtete, sie würden sie acht Meter weiter oben auf der Terrasse hören, aber sie nahm außer dem Knistern der Fackeln und dem unablässigen Gesang, der jetzt etwas anschwoll, nichts wahr. Sie drehte den Kopf und sah auf die Uhr.
    Der Reibungswiderstand würde nicht lange halten. Sechzig Zentimeter rechts von ihrem winzigen Halt ragte ein Stein weiter heraus und bot theoretisch Angriffsfläche für beide Hände. Ritzen einen Meter zwanzig darunter konnten den Füßen als Stütze dienen. Wenn es ihr nur gelingen würde, mit der linken Hand über den Körper zu greifen ...
    Sie schaffte es nicht. Jede Bewegung der Handfläche oder des Arms verlagerte das ganze Gewicht wieder auf die schmerzenden Finger der rechten Hand. Ihre Zehen rutschten, und sie hatte nirgends ausreichend Halt, die Füße wieder zu heben. Ihr blieb nur die Möglichkeit, den winzigen Sims loszulassen und zu versuchen, die sechzig Zentimeter nach rechts zu hangeln.
    Eins, dachte sie, zwei ... ihre Beine fingen an zu zittern wie eine Nähmaschine, ihre Finger lösten den Griff ... scheiß' drauf. Kate bewegte die Hand, rutschte ab, wahrte mit allen vier Punkten Kontakt, als sie nach rechts krabbelte, rutschte wieder ab ... zu weit! ... und erwischte dann einen ›Zehenhalt‹, als sie gerade glaubte, sie würde daran vorbeirutschen. Dieser Schlitz war so breit, daß sie vier Finger in voller Länge zwischen das Gestein schieben konnte. Sie preßte das Kinn gegen die winzige Spalte und schnaufte hinein. Eine Fledermaus schnellte aus dem Loch; die ledrigen Schwingen strichen ihr über das Gesicht. Kate dachte nicht einmal daran, loszulassen.
    Ich könnte eine Minute hier bleiben. Ausruhen.
    Von wegen. Beweg dich!
    Sie schlug die Augen auf. Noch neun Meter, dann müßte sie sich an der Stelle befinden, wo sie hinwollte, direkt unter dem Rand der Terrasse, wo der Gesang der Zeremonie weiterging. Sie drehte vorsichtig den Kopf und sah auf die Uhr.
    00:19. Sie hatte keine Zeit mehr für den Rest des Weges.
    Und wenn meine Uhr nachgeht? Kate wurde von plötzlichem Kichern geschüttelt, bis sie sich die Nase am linken Handgelenk abwischte und aus ihrer Hysterie erwachte. Ihre Arme zitterten wieder.
    Sie sah nach oben, suchte sich eine Route von Riß zu Riß, Stein zu Stein, und fing an zu klettern.
     
    Kate kam keine sechs Meter von der Stelle entfernt über die Mauer, wo sie sein wollte. Aller Augen waren auf Radu Fortuna gerichtet, der Joshua über sich hielt wie eine Opfergabe. Ein Strigoi mit schwarzer Kapuze stand neben Mike O'Rourke und hielt dem Ex-Priester eine gekrümmte Klinge an den Hals. Der

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