Kinder der Stürme
erleuchtete Fenster zu.
„Ein Mann und ein Kind … sieht nicht so gefährlich aus“, flüsterte Evan. Da das Fenster sehr hoch war, stellte sich Maris auf die Fußspitzen und hielt sich an Evan fest. Sie konnte hineinsehen.
Sie sah einen großen starken Mann mit einem Bart, der auf einem Stuhl am Feuer saß. Zu seinen Füßen hockte ein Kind, das ihn ansah.
Der Mann drehte seinen Kopf, so daß das Feuer einen roten Schein auf sein dunkles Haar warf. Im Licht konnte sie sein Gesicht erkennen.
„Coll!“ rief sie voller Freude. Sie schwankte und wäre beinahe gestürzt, wenn Evan sie nicht aufgefangen hätte.
„Dein Bruder?“
„Ja!“ Sie rannte zur anderen Seite des Hauses. Als sie die Hand auf die Türklinke legte, öffnete sich die Tür von innen. Coll, ein Mann wie ein Bär, umarmte sie stürmisch.
Maris war jedesmal überrascht über die Größe ihres Stiefbruders, denn zwischen ihren Begegnungen lag oft ein ganzes Jahr. Wenn sie an ihn dachte, war er immer ihr kleiner dünner Bruder, der sich nur wohl fühlte, wenn er seine Gitarre in den Händen hielt und selbstversunken Lieder sang.
Aber ihr kleiner Bruder war inzwischen ausgewachsen und hatte eine stattliche Größe erreicht. Er war viel gereist und hatte auf verschiedenen Schiffen gearbeitet, um so die Überfahrt zu anderen Inseln zu finanzieren. Auch hatte er jegliche Arbeit angenommen, wenn seine Zuhörer kein Geld hatten, um ihn zu bezahlen. All das hatte ihn stark gemacht. Sein Haar, das früher einmal rotgolden gewesen war, hatte inzwischen einen Braunton angenommen. Das Rot zeigte sich nur noch in seinem Bart und beim Schein des Feuers.
„Bist du Evan, der Heiler?“ fragte Coll, an Evan gewandt. Noch immer hielt er Maris in seinem Arm. Als Evan nickte, fuhr er fort, „es tut mir leid, daß wir hier so eingedrungen sind, aber in Port Thayos hat man uns gesagt, daß Maris hier mit dir zusammenlebt. Seit vier Tagen haben wir auf euch gewartet. Ich habe einen Fensterladen aufgebrochen, um hereinzukommen, aber ich habe ihn wieder repariert, und ich glaube er funktioniert jetzt besser als vorher.“ Er sah auf Maris herab und drückte sie. „Ich hatte schon Angst, daß wir dich verpaßt haben, daß du weggeflogen bist!“
Maris wandte sich aus seinem Arm und sah das Unbehagen in Evans Gesicht. Sie schüttelte sanft den Kopf.
„Es gibt viel zu erzählen“, sagte sie. „Wir wollen uns ans Feuer setzen. Meine Beine sind müde vom Wandern. Machst du uns deinen wundervollen Tee, Evan?“
„Ich habe Kivas mitgebracht“, sagte Coll schnell. „Drei Flaschen, als Gage für ein Lied. Soll ich ihn heiß machen?“
„Das wäre prima“, sagte Maris. Während sie zum Schrank ging, in dem die schweren Tonkrüge standen, fiel ihr Blick auf das Kind, das halb im Schatten versteckt war. Sie hielt kurz an.
„Bari?“ fragte sie verwundert.
Das kleine Mädchen kam schüchtern näher und sah sie von der Seite an.
„Bari“, sagte Maris noch einmal mit freundlicher Stimme. „Bist du es? Ich bin deine Tante Maris!“ Sie bückte sich, um das Kind zu umarmen. Dann hielt sie jedoch inne, um es noch einmal anzusehen. „Sicherlich kannst du dich nicht mehr an mich erinnern. Als ich dich das letztemal gesehen habe, warst du so klein wie ein Vögelchen.“
„Mein Vater singt Lieder über dich“, sagte Bari. Ihre Stimme klang glockenrein.
„Singst du auch?“ fragte Maris.
Bari zuckte die Achseln und sah auf den Boden. „Manchmal“, stammelte sie.
Bari war ein dünnes, zartes Kind von ungefähr acht Jahren. Ihr hellbraunes, kurzgeschnittenes Haar lag wie eine weiche Mütze auf ihrem Kopf. Es rahmte ein sommersprossiges herzförmiges Gesicht mit großen grauen Augen ein. Sie trug dieselbe Kleidung wie ihr Vater, jedoch in einer kleineren Ausführung. Eine wollene Tunika mit einem Gürtel über einer Lederhose. Ein durchsichtiges, goldfarbenes gehärtetes Stück Harz hing an einer Kette um ihren Hals.
„Warum holt ihr nicht ein paar Kissen und Decken und legt sie ans Feuer, damit wir es uns gemütlich machen“, schlug Maris vor. „Sie sind in der Holzkiste dort drüben.“
Sie holte die Krüge und ging zurück ans Feuer. Coll griff ihre Hand und zog sie an sich.
„Es tut gut, dich laufen zu sehen“, sagte er mit seiner tiefen warmen Stimme. „Als ich von deinem Unfall hörte, hatte ich Angst, du wärst verkrüppelt wie Vater. Während der langen Reise von Poweet hierher habe ich auf Neuigkeiten, auf gute Neuigkeiten gehofft, aber es
Weitere Kostenlose Bücher