Kinder der Stürme
sehr jung“, sagte Maris.
Coll zuckte die Achseln und legte die Gitarre beiseite. „Ja. Sie hat noch viel Zeit, und ich werde sie zu nichts zwingen.“ Er blinzelte und gähnte herzhaft. „Ich glaube, ich sollte ins Bett gehen.“
„Ich zeige dir dein Zimmer“, sagte Evan.
Coll lachte und schüttelte den Kopf. „Nicht nötig“, sagte er. „Nach vier Tagen fühle ich mich hier schon wie zu Hause.“
Er stand auf, und Maris erhob sich ebenfalls. Sie räumte die leeren Krüge weg, dann gab sie Coll einen Gutenachtkuß, zögerte aber, als Evan das Feuer aufschüttete und die Möbel geraderückte. Sie wartete darauf, Hand in Hand mit Evan ins Bett zu gehen.
Die nächsten Tage hielt Coll Maris bei guter Laune. Sie waren ständig zusammen, und er erzählte ihr seine Abenteuer oder sang für sie. Während all der Jahre, die Coll mit Barrion unterwegs gewesen war und Maris eine selbständige Fliegerin geworden war, hatten sie nicht viel Zeit miteinander verbracht. Nun, da Coll und Bari sie besuchten, kamen sie sich näher als in Colls Kindertagen. Zum erstenmal sprach er über seine gescheiterte Ehe und darüber, daß er sich selbst die Schuld dafür gab, weil er zu oft von zu Hause weggewesen war. Maris sprach weder über ihren Unfall noch über ihre Sorgen, denn dazu bestand kein Grund. Coll wußte nur zu gut, was ihr die Flügel bedeutet hatten.
Die Tage des Besuchs von Coll und Bari gingen unmerklich in Wochen über. Coll reiste herum, um in den Kneipen von Thossi und Port Thayos zu singen, wärend Bari Evan hinterdreinlief. Sie verhielt sich ruhig, zurückhaltend und aufmerksam. Evan fühlte sich durch ihr Interesse geschmeichelt. Die vier lebten harmonisch zusammen, teilten sich die Arbeit und setzten sich abends gemeinsam an den Kamin, um zu plaudern oder zu spielen. Maris erzählte Evan, Coll und sich selbst, daß sie zufrieden war. Sie konnte sich kein anderes Leben mehr vorstellen.
Dann kam S’Rella eines Tages.
Maris war an diesem Nachmittag allein im Haus und öffnete die Tür, als es klopfte. Ihre erste Reaktion beim Anblick ihrer alten Freundin war Freude, aber als sie die Arme ausbreitete, um sie zu umarmen, wurde Maris’ Blick unweigerlich von den Flügeln angezogen, die S’Rella über den Arm gelegt hatte. Ihr Herz schmerzte vor Sehnsucht. Selbst als sie S’Rella zu einem Stuhl führte und einen Kessel mit Teewasser aufsetzte, dachte sie, bald wird sie wieder wegfliegen und mich verlassen.
Es verlangte große Anstrengung von ihr, neben S’Rella zu sitzen und sie mit gespieltem Interesse nach Neuigkeiten zu fragen.
S’Rellas Gesicht leuchtete vor kaum unterdrückter Aufregung. „Ich bin geschäftlich hier“, sagte sie. „Ich habe eine Botschaft für dich. Ich bin gekommen, um dich zu fragen, dich einzuladen nach Seezahn zu reisen, um dort als neue Leiterin der Akademie zu fungieren. Sie brauchen einen starken und beständigen Lehrer in Holzflügel, nicht so einen wie die früheren, die in den letzten sechs Jahren kamen und gingen. Jemanden, der mit der Akademie verbunden ist, jemand, der sich auskennt. Einen Führer. Dich, Maris. Alle sehen zu dir auf – niemand könnte diese Aufgabe besser erfüllen als du. Wir alle möchten, daß du den Job übernimmst.“
Maris dachte an Sena, die nun schon fast fünfzehn Jahre tot war. Sie dachte daran, wie sie in den letzten Jahren ihres langen Lebens gewesen war. Eine gestürzte, verkrüppelte Fliegerin, die auf der Holzflüglerklippe stand und sich heiser rief, weil sie versuchte, ihr Wissen an die jungen Holzflügler weiterzugeben, die über ihr ihre Bahn zogen. Niemals mehr fliegen. Für immer an die Erde gebunden mit einem Bein, das nahezu unbrauchbar war, und einem blinden milchigweißen Auge. Für immer dort unten zu stehen und hinaufzustarren in die Sturmwinde, die Holzflügler beobachten, wie sie sich von ihr entfernten. All die Jahre, bis sie starb. Wie hatte sie das ertragen können?
Maris überlief ein kalter Schauer. Sie schüttelte energisch den Kopf.
„Maris?“ S’Rellas Stimme klang verblüfft. „Du bist immer der zuverlässigste Unterstützer von Holzflügler und dem gesamten System gewesen. Es gibt noch so viel, das du tun könntest. Was ist los?“
Maris starrte sie merkwürdig an. Sie wollte schreien, aber sie sagte ganz leise: „Wie kannst du mich das fragen?“
„Aber …“ S’Rella streckte die Hände aus. „Was kannst du hier tun? Maris, glaube mir, ich weiß, wie du dich fühlst, aber dein Leben ist noch
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