Kinder der Stürme
und einsam. Der leere Strand schien nirgendwo zu enden, und der wilde bewölkte Himmel umgab sie überall, aber Maris fühlte sich eingeschlossen und erdrückt.
Sie dachte an all die Orte in der Welt, die sie niemals mehr sehen würde, und mit jeder Erinnerung fühlte sie neuen Schmerz. Sie dachte an die eindrucksvollen Ruinen der Alten Festung auf Laus. Sie erinnerte sich an die große dunkle Holzflügler-Akademie, die man in die Felsen von Seestadt gehauen hatte. Sie dachte an den Tempel des Himmelsgottes auf Deeth und an die Schlösser der Fliegerprinzen von Artellia. An die Windmühlen von Sturmstadt und an das Alte Kapitänshaus, das in den Erzählungen erwähnt wurde. An die Dreierstädte von Setheen und Alessy, an die Gebeinhäuser und die Schlachtfelder von Lomarron, die Weingärten von Amberly und an Riesas warme verräucherte Kneipe auf Skulny. Alles war für immer verloren.
Und sie dachte an den Eyrie. Mit Schiffen konnte sie sonstwohin kommen, aber der Eyrie war nur für Flieger zu erreichen. Er war nun für immer verschlossen.
Sie dachte an ihre Freunde, die auf allen möglichen Inseln von Windhaven lebten. Einige von ihnen würden sie besuchen, aber viele andere waren für immer aus ihrem Leben verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Das letztemal, als sie T’mar gesehen hatte, war er fett und glücklich in seinem kleinen Steinhaus auf Hethen gewesen und hatte seiner Enkelin beigebracht, das Schöne in einem Stück Felsen zu erkennen. Nun war er für sie ebenso tot wie Halland. Eine Erinnerung, nichts weiter. Auch Reid würde sie nie wiedersehen, ebenso seine hübsche lachende Frau. Niemals wieder könnte sie die Nacht damit verbringen, Riesas Ale zu trinken und mit Garth Erinnerungen zu teilen. Auch S’maels hölzerne Schmuckstücke würde sie nicht mehr kaufen und keine Spaße machen mit dem Koch der kleinen Kneipe auf Poweet.
Nie wieder könnte sie die großen jährlichen Wettkämpfe verfolgen oder auf einer Fliegerparty herumsitzen, tratschen und singen.
Die Erinnerungen stachen sie wie tausend Messer. Maris schrie vor Schmerz und schluchzte, bis sie kaum noch atmen konnte. Sie konnte sich vorstellen, wie sie aussah: eine lächerliche alte Frau, die heulend und klagend am Strand entlanglief. Aber sie konnte nicht aufhören.
Kaum konnte sie es ertragen, ans Fliegen selbst zu denken. An das große Vergnügen und die Freiheit, die sie verloren hatte. Die Erinnerungen kamen ganz von alleine: Die Welt breitete sich unter ihr aus, die Freude, Flügel zu haben, die Spannung, einem Sturm zu entkommen, die unzähligen Farben des Himmels, die prachtvolle Einsamkeit der Höhen. All das konnte sie nie wieder empfinden oder sehen, außer in der Erinnerung. Einmal hatte sie einen Aufwind erwischt, der sie halbwegs ins Unendliche mitgenommen hatte, hinauf in das Reich der Sternensegler, wo selbst die See verschwand und sich nichts bewegte als die fremden ätherischen Windgeister. Diesen Tag würde sie niemals vergessen. Niemals.
Um sie herum wurde es dunkel, und die Sterne erschienen am Himmel. Überall war das Rauschen des Meeres. Sie war gelähmt und fror durch und durch. Sie hatte keine Tränen, und ihr Leben hatte keinen Sinn.
Schließlich ging sie zur Hütte zurück, nur gelegentlich wandte sie sich um und betrachtete das Meer und den Himmel.
Das Haus war warm und duftete nach einem herzhaften Eintopf. Als sie Evan am Feuer stehen sah, schlug ihr Herz schneller. Seine blauen Augen waren unendlich zärtlich, wenn er ihren Namen aussprach. Sie rannte auf ihn zu, umarmte ihn und hielt ihn fest. Dann schloß sie die Augen, weil ihr schwindelig wurde.
„Maris“, sagte er wieder. „Maris.“ Seine Stimme klang freundlich und überrascht. Auch er nahm sie in den Arm und zog sie schützend an sich. Dann führte er sie zum Tisch und stellte ihr einen Teller hin.
Während des Essens erzählte er ihr die Ereignisse des Tages. Er erzählte von einer abenteuerlichen Gänsejagd und davon, wie er einen Busch reifer Silberbeeren gefunden hatte, aus denen er ihr Lieblingsdessert bereitet hatte.
Sie nickte. Ohne auf den Sinn seiner Worte zu achten, erfreute sie sich am Klang seiner Stimme. Er sollte nicht aufhören zu reden. Seine Worte und seine Anwesenheit sagten ihr, daß das Leben noch nicht zu Ende war.
Schließlich unterbrach sie ihn. „Evan, ich habe eine Frage. Meine Verletzung … Besteht eine Chance, daß sie sich jemals bessern wird? Daß ich fähig sein werde …, daß ich vollkommen gesund
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