Kinder der Stürme
werde?“
Er legte seinen Löffel ab. Sofort verschwand die Heiterkeit aus seinem Gesicht. „Maris, ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, daß dir jemand sagen könnte, ob dein Zustand andauert oder sich verändert. Es gibt keine Gewißheit.“
„Was vermutest du denn?“
Er sah sehr bedrückt aus. „Nein“, sagte er ruhig. „Ich glaube nicht, daß du vollkommen genesen wirst. Ich glaube nicht, daß du jemals zurückbekommst, was du verloren hast.“
Sie nickte besonders ruhig. „Ich verstehe.“ Sie schob den Teller beiseite. „Danke. Ich mußte dich einfach fragen, denn irgendwie hatte ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben.“ Sie stand auf.
„Maris …“
Sie wies ihn zurück. „Ich bin müde. Es war ein schwerer Tag für mich, und ich muß über alles nachdenken, Evan. Ich muß Entscheidungen treffen, und dazu muß ich allein sein. Es tut mir leid.“ Sie lächelte gezwungen. „Das Essen war ausgezeichnet. Ich bedauere, daß ich das Dessert ausschlagen muß, aber ich habe keinen Hunger.“
Das Zimmer war dunkel und kalt, als Maris aufwachte. Das Feuer, das sie angezündet hatte, war ausgegangen. Sie saß im Bett und starrte in die Dunkelheit. Keine Tränen mehr, dachte sie. Das ist vorüber.
Als sie die Decke zurückwarf und aufstand, drehte sich der Boden unter ihren Füßen. Für einen Moment taumelte sie. Sie versuchte sich zu beruhigen, zog sich etwas über und ging in die Küche, wo sie eine Kerze an einem glimmenden Holzspan des Kamins anzündete. Unter ihren nackten Füßen fühlte sich der Holzboden kalt an, als sie in den Flur ging. Sie kam an Evans Arbeitszimmer, in dem er seine Tränke und Salben anfertigte, und an den leeren Schlafzimmern, die er für Patienten bereithielt, vorbei.
Als sie seine Zimmertür öffnete, blinzelte Evan, drehte sich auf die andere Seite und sah sie an.
„Maris?“ sagte er mit verschlafener Stimme. „Was ist los?“
„Ich möchte nicht tot sein“, sagte sie.
Maris ging durch das Zimmer und stellte eine Kerze auf den Nachttisch. Evan setzte sich auf und nahm ihre Hand. „Ich habe alles für dich getan, was ein Heiler tun kann“, sagte er. „Wenn du meine Liebe willst … wenn du mich willst …“
Mit einem Kuß brachte sie ihn zum Schweigen. „Ja“, sagte sie.
„Mein Liebling“, sagte er und betrachtete sie im Kerzenlicht. Durch die Schatten hatte sein Gesicht etwas Fremdes. Einen Moment lang fühlte sie sich unbehaglich. Sie hatte Angst.
Aber der Moment ging schnell vorüber. Er warf die Decke zurück. Sie zog ihr Gewand aus und stieg in sein Bett. Er legte seinen Arm um sie. Seine Hände waren zart, liebevoll und vertraut. Sein Körper war warm und voller Leben.
„Unterrichte mich in der Kunst des Heilens“, sagte Maris am nächsten Morgen. „Ich würde gern mit dir arbeiten.“
Er lächelte. „Vielen Dank“, sagte er. „Aber so einfach ist es nicht. Woher kommt das plötzliche Interesse für die Heilkunst?“
Sie zog eine Grimasse. „Ich muß etwas tun, Evan. Ich verfüge nur über ein Talent, das Fliegen, und dieses Talent habe ich verloren. Ich habe nie etwas anderes getan. Ich könnte ein Schiff nach Amberly nehmen und den Rest meines Lebens im Hause meines Stiefvaters verbringen, ohne etwas zu tun. Ich wäre versorgt, selbst wenn ich nichts hätte, denn die Menschen von Amberly lassen ihre ausgedienten Flieger nicht als Bettler enden.“ Sie stand vom Frühstückstisch auf und ging im Zimmer auf und ab.
„Oder ich könnte hier bleiben, wenn ich eine Aufgabe hätte. Wenn ich etwas finde, womit ich meine Tage ausfüllen kann, etwas Sinnvolles, dann werden mich meine Erinnerungen nicht verrückt machen, Evan. Ich bin zu alt, um noch Kinder zu haben, außerdem habe ich mich schon vor Jahren gegen eine Mutterschaft entschieden. Ich kann kein Schiff steuern, keinen Ton halten oder ein Haus bauen. Alle Gärten, die ich angelegt habe, sind eingegangen. In handwerklichen Dingen habe ich zwei linke Hände, und mich in einen Laden zu stecken, um Dinge zu verkaufen, würde mich zur Trinkerin machen.“
„Wie ich sehe, hast du alle Möglichkeiten erwogen“, sagte Evan. Ein Lächeln huschte über seine Lippen.
„Ja, das habe ich“, sagte Maris mit ernstem Ton. „Ich glaube nicht, daß ich ein prädestinierter Heiler bin, ich wüßte nicht wieso, aber ich bin bereit, hart zu arbeiten, und verfüge über das Gedächtnis eines Riegers. Ich halte es für ausgeschlossen, daß ich Gift und Medizin verwechsele. Ich kann dir helfen,
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