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Kinder der Stürme

Kinder der Stürme

Titel: Kinder der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
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hätte. Jeder wußte, daß die Flugjährigkeit relativ willkürlich festgelegt wurde, das hatte zur Folge, daß einige noch richtige Kinder, andere bereits Erwachsene waren, wenn sie die Flügel übernahmen. Ja, die Jungen sollten ihre Fähigkeiten erst unter Beweis stellen … eine Welle der Zustimmung lief durch die Versammlung.
    „Aber die Akademie“, sagte die Sprecherin freundlich, „halte ich nicht für notwendig. Wir Flieger haben selbst genug Nachwuchs. Ich kenne die Hintergründe für deinen Vorschlag, und ich kann deine Gefühle verstehen, aber ich kann sie nicht teilen. Es wäre nicht klug.“ Sie setzte sich, und Maris’ Herz wurde schwer. Jetzt ist alles aus, dachte sie. Sie werden für einen Test stimmen, aber der Himmel wird den geborenen Fliegern vorbehalten bleiben. Die Flieger werden den wichtigsten Teil des Antrages ablehnen. Sie war ihrem Ziel so nahe gewesen, aber sie hatte es nicht erreicht.
    Ein hagerer Mann in Seide und Silber war aufgestanden. „Arris, Flieger und Prinz von Artellia“, sagte er, seine eisblauen Augen glänzten unter einer Silberkrone. „Ich stimme dem Vorschlag meiner Schwester von den Äußeren Inseln zu. Meine Kinder sind von königlichem Geblüt, auserwählt, die Flügel zu tragen. Es wäre ein Witz, wenn man sie zwingen würde, in einem Wettstreit mit Gemeinen anzutreten. Aber einem Test, der zeigt, daß sie der Aufgabe gewachsen sind, halte ich für eines Fliegers würdig.“
    Nach ihm sprach eine dunkelhäutige, in Leder gekleidete Frau. „Zevakul von Deeth im Südarchipel“, begann sie. „Jedes Jahr fliege ich, um die Botschaften meines Landmanns zu überbringen. Aber ich diene auch dem Himmelsgott, wie alle Angehörigen der oberen Kasten. Der Gedanke, meine Flügel an einen Niederen, ein Erdkind, womöglich einen Ungläubigen zu geben, ist untragbar.“
    Weitere Meldungen wurden laut.
    „Joi von Sturmhammer – die Äußerste. Ich befürworte die Idee eines Wettbewerbs, der die Fähigkeiten beweisen soll, jedoch nur unter den Kindern der Flieger.“
    „Tomas von Klein Shotan. Die Kinder der Landgebundenen könnten den Himmel niemals so lieben wie wir. Es wäre reine Zeit- und Geldverschwendung, eine Akademie zu errichten, von der Maris gesprochen hat. Aber ich stimme für einen Wettbewerb.“
    „Crain von Poweet, ich schließe mich der Meinung meiner Vorredner an. Warum sollten wir uns mit den Kindern der Fischer messen? Lassen sie uns etwa an ihren Booten teilhaben?“ Gelächter brach im Saal aus, der betagte Flieger grinste. „Ja, ein Witz, ein guter Witz sogar. Nun, meine Brüder, wir selbst wären ein Witz, und diese Akademie wäre ein Witz, würde sie den Mob aufnehmen. Die Flügel gehören den Fliegern, und all die Jahre ist es so gewesen, weil es so sein muß. Das gemeine Volk ist bis auf wenige, die wirklich fliegen möchten, zufrieden. Für viele von ihnen ist es eine vorübergehende Laune, anderen flößt schön der Gedanke Angst ein. Warum sollten wir Luftschlösser unterstützen? Sie sind keine Flieger, waren niemals dazu bestimmt und können ebensogut auf ihre Art ein würdiges Leben führen …“
    Maris hörte ungläubig und mit wachsendem Zorn zu. Auf die Palme brachte sie vor allem die blasierte Selbstgerechtigkeit seiner Worte. Zu ihrem Entsetzen sah sie einige Flieger, vor allem die jüngeren, zustimmend nicken. Ja, sie waren etwas Besonderes, weil sie einer Fliegerfamilie entstammten. Ja, sie standen über den anderen. Plötzlich spielte es keine Rolle mehr, daß sie in der Vergangenheit selbst auf die Landgebundenen herabgesehen hatte. Plötzlich konnte sie nur noch an ihren leiblichen Vater denken, an den toten Fischer, an den sie sich sonst kaum noch erinnerte. Längst vergessene Erinnerungen stiegen wieder in ihr auf. Sie glaubte Sinneseindrücke wahrzunehmen – steife Kleider, die nach Salz und Fisch rochen, warme Hände, die rissig, aber sanft über ihr Haar strichen und ihr die Tränen von den Wangen wischten, wenn die Mutter wieder einmal geschimpft hatte. Und die Geschichten, die er mit seiner tiefen Stimme erzählt hatte. Geschichten über seine Erlebnisse auf dem Meer. Wie die Vögel aussahen, wenn sie vor dem Sturm flüchteten, oder wie der Mondfisch dem nächtlichen Himmel entgegensprang. Wie sich der Wind anfühlte und wie es klang, wenn die Wellen gegen das Boot schlugen. Ihr Vater war ein guter Beobachter und ein tapferer Mann gewesen. Jeden Tag hatte er sich in seinem kleinen Boot dem Meer ausgesetzt, und Maris

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