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Kinder der Stürme

Kinder der Stürme

Titel: Kinder der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
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zurückzugewinnen, ohne seiner Tochter gegenüber grausam sein zu müssen. Zufrieden lächelnd nahm Maris Platz.
    Jamis, der Senior, sah zu Corm hinüber.
    „Das klingt alles sehr vielversprechend“, sagte dieser ein wenig lächelnd. Er war nicht einmal aufgestanden. Seine Ruhe nahm Maris die ganze Hoffnung, die sie allmählich gewonnen hatte. „Ein netter Traum für eine Fischerstochter und überaus verständlich. Aber vielleicht verstehst du die Tradition der Flügel nicht, Maris. Wie kannst du von Familien, die von jeher, also immer geflogen sind, erwarten, daß sie ihre Flügel abnehmen, um sie an Fremde weiterzugeben. Fremde ohne Tradition oder Familienstolz, die sich nicht genügend um die Flügel kümmern würden und die nicht die nötige Achtung empfänden. Glaubst du wirklich, daß wir unser Erbe unverschämten Landgebundenen statt unseren eigenen Kindern geben würden?“
    Maris geriet in Wut. „Und du erwartest von mir, daß ich meine Flügel Coli gebe, der viel schlechter fliegt als ich.“
    „Die Flügel haben dir nie gehört“, sagte Corm.
    Sie preßte die Lippen zusammen und schwieg.
    „Wenn du dir Hoffnungen gemacht hast, ist das dein Fehler“, sagte Corm. „Überleg doch mal. Wenn die Flügel von einem zum anderen weitergegeben werden, wie kann dann der Besitzer stolz auf sie sein? Sie wären nur … geliehen … und würden niemandem gehören. Aber jeder weiß, daß die Flügel einem Flieger gehören müssen, sonst ist er überhaupt kein Flieger. Nur eine Landgebundene kann uns so ein Leben wünschen!“
    Maris spürte, wie sich die Meinung der Zuhörer mit jedem seiner Worte verlagerte. Er baute seine Argumente so aufeinander auf, daß sie Maris wieder entglitten, bevor sie sie für sich hätte verwenden können. Sie mußte ihm entgegentreten, aber wie, wie? Ein Flieger fühlte sich so sehr mit seinen Flügeln verbunden, wie mit seinen Füßen. Das konnte sie weder leugnen noch bekämpfen. Sie erinnerte sich an ihre Wut, als sie festgestellt hatte, daß Corm sich nicht ordnungsgemäß um ihre Flügel gekümmert hatte. Dabei hatten ihr die Flügel nicht einmal gehört, es waren die Schwingen ihres Vaters und ihres Bruders gewesen.
    „Die Flügel sind etwas Anvertrautes“, erwiderte sie. „Selbst heute weiß jeder Flieger, daß er sie nach geraumer Zeit an seine Kinder weitergeben muß.“
    „Das ist etwas anderes“, sagte Corm duldsam. „Familienangehörige sind etwas anderes als Fremde, und ein Fliegerkind ist nicht landgebunden.“
    „Die Flügel sind zu wichtig, als daß man sie nur von Familienbanden abhängig machen darf!“ Maris sah ihn wütend an, und ihre Stimme wurde lauter. „Achte auf deine Worte, Corm! Achte auf deinen Snobismus, der sich in dir und anderen Fliegern breitgemacht hat. Achte auf die Geringschätzung gegenüber Landgebundenen. Sie können nichts für ihren Status, und die Erbfolgerechte geben ihnen keine Möglichkeit, sich zu verbessern!“ Ihre Stimme klang wütend. Und die Zuhörer wurden merklich feindseliger. Plötzlich merkte sie, daß sie alles verlieren würde, wenn sie versuchte, die Flieger gegen die Landgebundenen auszuspielen.
    Maris zwang sich zur Ruhe. „Wir sind stolz auf unsere Flügel“, sagte sie und kam bewußt auf ihr stärkstes Argument zurück. „Und gerade dieser Stolz ist es, der sicherstellt, daß wir sie behalten wollen. Gute Flieger werden den Himmel behalten. Wenn sie herausgefordert werden, sind sie nicht leicht zu besiegen. Verlieren sie aber, werden sie alles daransetzen, die Flügel wiederzubekommen. Und sie werden befriedigt feststellen, daß der Flieger, der die Flügel übernimmt, gut ist. Ungeachtet der Elternschaft können sie sicher sein, daß ihr Nachfolger den Flügeln alle Ehre machen wird und sie ordnungsgemäß benutzt.“
    „Die Flügel sind dazu bestimmt –“, begann Corm, aber Maris ließ ihn nicht ausreden.
    „Die Flügel sind nicht dazu bestimmt, im Meer zu verschwinden“, sagte sie, „und schlechte Flieger, Flieger, die sich nie ernsthaft bemüht haben, gut zu sein, weil sie es nicht nötig hatten, diese Flieger haben für uns alle Flügel verloren. Einige verdienen es nicht, die Bezeichnung Flieger zu tragen. Und was ist mit all den Kindern, die zu jung sind für den Himmel, obwohl sie das offizielle Alter erreicht haben? Sie geraten in Panik, irren umher und sterben. Ihre Flügel nehmen sie mit ins Grab.“
    Sie warf Coli einen flüchtigen Blick zu. „Und was ist mit jenen, die nicht fliegen

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