Kinder der Stürme
Helmer sah, der sich aus der zweiten Reihe erhob. Sein Gesicht war düster, und er stand mit verschränkten Armen da.
„Helmer“, sagte Jamis streng, „noch hat Maris das Wort.“
„Das ist mir gleichgültig“, erwiderte er. „Sie greift unsere Bräuche an, aber sie bietet uns keine Alternative. Und das hat seinen guten Grund. Dieser Brauch hat all die Jahre funktioniert, weil es keinen besseren gibt. Es mag für dich schwer zu verstehen sein. Schwer, weil du kein geborener Flieger bist. Aber kennst du eine andere Möglichkeit?“
Helmer, dachte sie, als er sich setzte. Natürlich, seine Wut war verständlich. Gerade ihn wird die Tradition bald treffen. Er war noch jung, dennoch würde er in weniger als einem Jahr selbst: ein Landgebundener sein, wenn seine Tochter alt genug war, seine Flügel zu übernehmen. Er akzeptierte den Verlust seiner Flügel als unabänderliche Tatsache, vielleicht sogar als berechtigten Teil der ehrbaren Tradition. Und nun griff Maris die Tradition an, das einzige, was sein Opfer edelmütig erscheinen ließ. Wenn alles beim alten bliebe, dachte Maris, würde Helmer seine Tochter bald hassen, weil sie die Flügel trug? Und Russ … was wäre, wenn er nicht verletzt wäre, wenn Coli nicht geboren worden wäre …
„Ja“, sagte Maris lautstark. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß der ganze Saal auf ihre Entgegnung wartete. „Ja, ich kenne eine Möglichkeit. Ich hätte mir nie erlaubt, die Versammlung einzuberufen, wenn …“
„Du hast sie nicht einberufen!“ rief jemand, und die anderen lachten. Ihr wurde heiß, und sie hoffte, daß sie nicht errötete.
Jamis klopfte fest auf den Tisch. „Maris von Klein Amberly hat das Wort“, sagte er ermahnend. „Der nächste, der sie unterbricht, muß den Saal verlassen!“
Maris lächelte ihm dankbar zu. „Ich schlage eine bessere Möglichkeit vor“, sagte sie. „Ich schlage vor, daß man sich das Recht, die Flügel zu tragen, verdient. Nicht Geburt oder Alter, sondern das Talent sollte das einzige Kriterium sein, das zählt!“
Während sie sprach, nahm die Idee Gestalt an. Aus dem vagen Konzept des freien Zugangs für alle wurde ein detaillierter Plan. „Ich schlage eine Fliegerakademie vor, die jedem offen steht, der davon träumt, ein Flieger zu werden. Die Anforderungen sollten sehr hoch sein, was eine gewisse Auslese mit sich brächte. Aber alle hätten das Recht auf einen Versuch, der Fischerssohn, die Tochter des Sängers oder des Webers, jeder könnte davon träumen und hoffen. Für jene, die den Anforderungen genügen, gäbe es einen Abschlußtest. Bei unserem jährlichen Wettbewerb könnten sie einen Flieger ihrer Wahl herausfordern. Wenn sie gut genug fliegen, gut genug um ihn zu besiegen, gehören ihnen die Flügel.
Auf diese Weise behielten immer die besten Flieger die Flügel. Ein besiegter Flieger könnte im folgenden Jahr sein Glück versuchen und denjenigen herausfordern, der ihn im Vorjahr besiegt hat. Oder er könnte jemanden anderes, etwa einen schwächeren Flieger, herausfordern. Kein Flieger könnte sich auf die faule Haut legen, und niemand, der den Himmel nicht liebt, müßte fliegen.“ Sie sah Helmer an, dessen Gesicht keine Reaktion verriet. „Außerdem müßten auch die Kinder der Flieger ihr Können unter Beweis stellen. Sie könnten die Flügel ihrer Eltern erst übernehmen, wenn sie besser fliegen als ihr Vater oder ihre Mutter. Kein Flieger wäre dazu verdammt, ein Landgebundener zu sein, nur weil er jung geheiratet und früh Kinder bekommen hat. Dies alles wäre wesentlich gerechter, denn nur das Talent wäre wichtig, nicht Herkunft, Alter oder Tradition, sondern nur die Person!"
Sie hielt inne. Beinahe wäre sie mit ihrer Geschichte herausgeplatzt. Die Geschichte von der Fischerstochter, die wußte, daß ihr niemals der Himmel gehören würde, die Geschichte vom Schmerz und vom Verlangen. Aber warum Atem vergeuden? Vor ihr saßen nur geborene Flieger. Sie wollte nicht deren Mitleid für die von ihnen verachteten Landgebundenen wecken. Nein, es war jetzt wichtiger, daß der nächste Holzflügler, der auf Windhaven geboren wurde, eine Chance zum Fliegen bekam. Ihre Geschichte lieferte dazu keine guten Argumente. Sie hatte genug geredet. Sie hatte die ganze Problematik vor ihnen ausgebreitet – nun mußten sie entscheiden. Sie sah Helmer kurz an. Sein Lächeln verriet ihr, daß sie mit tödlicher Sicherheit seine Stimme gewonnen hatte, denn gerade hatte sie ihm die Chance gegeben, sein Leben
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