Kinder der Stürme
wußte in ihrer Wut, daß keiner hier im Saal besser war als er, keiner auf ganz Windhaven.
„Ihr Snobs“, sagte sie zornig. Jetzt war es ihr gleich, ob ihre Worte der Stimmung nutzten oder schadeten. „Ihr glaubt alle etwas Besonderes zu sein, nur weil ihr von Fliegern abstammt und die Flügel geerbt habt. Glaubt ihr auch, daß ihr das Talent eurer Eltern geerbt habt? Wie sieht es mit der anderen Hälfte eures Erbgutes aus? Sind die Ehen eurer Eltern immer reine Fliegerehen gewesen? “ Anklagend zeigte sie mit dem Finger auf ein vertrautes Gesicht in der dritten Reihe. „Du, Sar, du hast gerade genickt? Dein Vater war Flieger, das stimmt, aber deine Mutter war eine Händlerin und stammte aus dem Fischervolk. Siehst du auf sie herab? Was wäre, wenn deine Mutter gesteht, daß ihr Ehemann nicht dein leiblicher Vater ist – was wäre, wenn sie deine Geburt einem Händler, den sie auf einer Reise kennengelernt hat, zu verdanken hat? Was dann? Würdest du dich verpflichtet fühlen, die Flügel abzugeben und dir eine neue Existenz aufzubauen?“
Der mondgesichtige Sar blickte sie mit offenem Mund an. Er war kein Schnelldenker und konnte nicht begreifen, warum sie gerade ihn ausgesucht hatte. Maris zog ihren Finger zurück. Ihre Wut richtete sich gegen alle.
„Mein leiblicher Vater war ein Fischer. Er war ein mutiger, guter und ehrenwerter Mann, der niemals Flügel getragen hat und sie auch nicht tragen wollte. Aber wenn, wenn er sich entschieden hätte, Flieger zu sein, wäre er der beste gewesen! Man hätte ihm Lieder gewidmet und ihn gefeiert. Wenn wir das Talent unserer Eltern erben, was ist dann mit mir? Meine Mutter kann spinnen und Austern sammeln, ich nicht. Mein Vater konnte nicht fliegen, ich wohl. Und viele von euch wissen, wie gut ich fliege – besser als manch geborener Flieger.“ Sie wandte sich um und sah zur Längsseite des Tisches. „Besser als du, Corm“, sagte sie mit einer Stimme, die durch den Saal schnitt. „Oder hast du das vergessen?“
Corm sah sie an. Sein Gesicht wurde rot vor Wut, eine dicke Ader klopfte in seinem Hals. Er schwieg. Maris wandte sich wieder an die Menge. Ihre Stimme wurde leiser, sie sah sich mit gespielter Besorgnis um. „Habt ihr Angst?“ fragte sie. „Habt ihr eure Flügel nur an falsche Vorstellungen gehängt? Fürchtet ihr, daß all die schmutzigen kleinen Fischerkinder kommen und sie euch wegnehmen? Daß sie euch ihre größeren Flugkünste demonstrieren und euch zu Narren machen?“
Ihr Redeschwall und ihre Wut waren vorbei. Maris lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Stille lastete über der großen Steinhalle. Schließlich hob sich eine Hand, dann noch eine, aber Jamis starrte gedankenverloren vor sich hin. Niemand bewegte sich, bis er wie aus dem Schlaf erwachte und auf jemanden in der Menge deutete.
Ganz oben an der Wand stand ein alter Mann mit einem kranken Arm, allein im flackernden gelben Licht der Fackeln. Die Menge drehte sich zu ihm um.
„Russ von Klein Amberly“, begann er. Seine Stimme klang sanft. „Meine Freunde, Maris hat recht. Wir waren Narren. Und ich selbst war der größte von allen.
Es ist noch nicht lange her, da stand ich am Strand und sagte, ich hätte keine Tochter. Heute nacht wünschte ich, ich könnte diese Worte zurücknehmen. Ich wünschte, ich hätte noch das Recht, Maris als meine Tochter zu bezeichnen. Sie hat mich sehr stolz gemacht. Aber sie ist nicht meine Tochter. Wie sie sagte, ist sie die Tochter eines Fischers, eines besseren Mannes, als ich einer bin. Aber ich habe sie geliebt und ihr das Fliegen beigebracht. Das kostete wenig Mühe, wie ihr wißt, denn sie war sehr eifrig, meine kleine Holzschwinge. Nichts konnte sie aufhalten, nichts. Nicht einmal ich, der alte Narr. Dabei habe ich es versucht, als Coli geboren wurde.
Maris ist die beste Fliegerin von Amberly, und mein Blut hat damit nichts zu tun. Nur ihr Verlangen, ihr Traum ist wichtig. Und wenn ihr, meine Fliegerbrüder, die Kinder der Landgebundenen tatsächlich so sehr verachtet, dann ist es eine Schande für euch, sie zu fürchten. Habt ihr so wenig Vertrauen in eure eigenen Kinder? Seid ihr so sicher, daß sie ihre Schwingen nicht gegen das sehnsüchtige Verlangen eines Fischerkindes verteidigen können?“
Russ schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich bin ein alter Mann, und alles ist so verwirrend. Aber eines weiß ich genau, wenn ich meinen Arm noch gebrauchen könnte, würde mir niemand meine Flügel wegnehmen, selbst wenn er der
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