Kinder der Stürme
Sandkerze an.
Das Licht fiel auf einen Steinkrug, der neben ihrem Bett stand. Maris lächelte. Das war genau das richtige, um Alpträume zu vertreiben.
Im Schneidersitz hockte sie sich auf ihr Bett und trank den kühlen harzigen Wein. Für eine Zeitlang starrte sie in das flackernde Licht der Kerze. Der Traum hatte sie beunruhigt. Wie alle Flieger fürchtete Maris die Windstille, aber noch nie hatte sie davon geträumt. Das schlimmste an dem Traum war der Frieden, das Gefühl des Ausgeliefertseins. Ich bin ein Flieger, dachte sie, aber solche Träume gehören sich nicht für einen richtigen Flieger.
Jemand klopfte an die Tür.
„Herein“, sagte Maris und stellte den Steinkrug beiseite.
S’Rella, ein schlankes, dunkelhäutiges Mädchen mit kurzen Haaren stand in der Tür. „Das Frühstück ist gleich fertig, Maris“, sagte sie mit dem leichten Akzent ihrer Heimat. „Aber Sena möchte dich vorher noch sprechen. Sie ist in ihrem Zimmer.“
„Danke“, sagte Maris freundlich. Von allen Schülern der Holzflügel-Akademie mochte sie S’Rella am liebsten. Die Insel des Südarchipels, von der S’Rella stammte, lag Welten entfernt von Klein Amberly, aber trotz der großen Unterschiede erkannte sich Maris in dem jungen Mädchen wieder. S’Rella war klein, aber ihre Entschlossenheit glich ihre mangelnde Größe aus. Zurzeit stellte sie sich beim Fliegen noch recht ungeschickt an, aber ihre Hartnäckigkeit ließ schnelle Fortschritte erwarten. Maris hatte beinahe zehn Tage mit Senas Gruppe von Flugschülern gearbeitet, und sie war der Meinung, daß S’Rella zu den drei oder vier vielversprechendsten Talenten gehörte.
„Soll ich auf dich warten und dir den Weg zeigen?“ fragte das Mädchen, als Maris das Bett verließ, um sich zu waschen.
„Nein“, sagte Maris. „Geh nur frühstücken. Ich werde Sena schon finden.“ Sie lächelte, um die Absage ein wenig zu mildern. Auch S’Rella lächelte schüchtern, als sie den Raum verließ.
Einige Minuten später tastete sich Maris auf der Suche nach Senas Stübchen gedankenschwer durch den schmalen, feuchten Korridor. Die Holzflügel-Akademie war ein alter Bau, ein riesiger Felsen, der von Gängen und Höhlen durchzogen wurde. Einige waren auf natürliche Weise entstanden, andere waren von Menschen angelegt worden. Die tiefer gelegenen Räume waren dauernd überflutet, und sogar in den bewohnten, oberen Teilen waren viele Räume und alle Säle fensterlos und abgeschlossen vom Licht der Sonne und den Sternen. Der Geruch des Meeres durchdrang jeden Winkel. Früher war es eine Festung gewesen, die während Seezahns erbitterter Revolte gegen Groß Shotan ausgebaut worden war. Danach war sie unbenutzt gewesen, bis sie vor sieben Jahren die Landfrau von Seezahn den Fliegern als Trainingszentrum anbot. In dieser Zeit hatten Sena und ihre Schützlinge den Bau größtenteils instand gesetzt, aber es konnte immer noch passieren, daß jemand eine falsche Abzweigung erwischte und sich in den verlassenen Teil verlief.
In den Korridoren von Holzflügel schien die Zeit keine Spuren zu hinterlassen. Fackeln brannten an den Wänden nieder, und das Öl der Lampen ging zur Neige. Oft vergingen Tage, bis dies von irgendjemand bemerkt wurde. Maris tastete sich vorsichtig ihren Weg durch einen dieser langen Gänge. Sie war nervös, das Gewicht der alten Festung schien auf ihr zu lasten. Sie hielt sich nicht gerne in unterirdischen oder geschlossenen Räumen auf. Es widersprach ihrem Fliegerinstinkt.
Erleichtert sah Maris das schwache Glühen eines Lichtes. Eine letzte scharfe Biegung, und sie befand sich auf vertrautem Gebiet. Senas Zimmer lag gleich linker Hand.
„Maris“, Sena blickte auf und lächelte. Sie saß in einem Korbsessel und schnitzte an einem Stück Holz. „Ich wollte gerade S’Rella rufen und sie bitten, dich zu suchen. Hast du dich verirrt?“
„Fast“, sagte Maris kopfschüttelnd. „Ich hätte eine Fackel mitnehmen sollen. Von meinem Zimmer aus komme ich gut in die Küche, die Gemeinschaftsräume oder nach draußen, aber hier unten finde ich mich nicht gut zurecht.“
Sena lachte. Aber es war nur ein höfliches Lächeln, das ihre wahren Gefühle verbergen sollte. Die Lehrerin war früher Fliegerin gewesen. Vor mehr als zehn Jahren hatte sie einen Unfall gehabt, der sie zu einer Landgebundenen gemacht hatte. Sie war dreimal so alt wie Maris. Normalerweise täuschten Vitalität und Enthusiasmus über ihr Alter hinweg, aber heute Morgen sah sie alt und müde
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