Kinder der Stürme
aus. Ihr schlimmes Auge glich einem Stück milchigem Seeglases, es schien ihre linke Gesichtshälfte herabzudrücken, die unter der Last verformt aussah und zitterte.
„Hattest du einen Grund, S’Rella nach mir zu schicken“, fragte Maris. „Gibt es Neuigkeiten?“
„Ja“, sagte Sena „und keine guten. Ich wollte mit niemandem darüber sprechen, bevor ich dich unterrichtet habe.“
„Ja?“
„Die östlichen Inseln haben Luftheim geschlossen“, sagte Sena.
Maris lehnte sich seufzend auf ihrem Sessel zurück. Plötzlich fühlte auch sie sich schwach. Die Nachricht kam nicht überraschend, aber es war doch eine Enttäuschung. „Warum gerade jetzt?“ fragte sie. „Noch vor drei Monaten habe ich mit Nord gesprochen, als sie mich mit einer Nachricht nach Fern Hunderlin schickten. Er war davon überzeugt, daß sie die Akademie frühestens nach den Wettkämpfen schließen würden. Außerdem hat er gesagt, sie hätten einige vielversprechende Talente unter den Schülern.“
„Es hat einen Todesfall gegeben“, sagte Sena. „Eine seiner Schülerinnen hat einen falschen Kurs eingeschlagen und mit dem Flügel eine Klippe gestreift. Nord konnte nur noch hilflos zusehen, wie sie am Felsen abstürzte. Zu allem Unglück waren auch ihre Eltern dabei. Wohlhabende, einflußreiche Leute – Händler von Cheslin, ihnen gehören mehr als ein Dutzend Schiffe. Das Mädchen wollte ihnen imponieren. Anschließend sind ihre Eltern zum Landmann gegangen, um Gerechtigkeit zu verlangen. Sie sagten, Nord habe seine Aufsichtspflicht verletzt.“
„Und, stimmt das?“ fragte Maris.
Sena zuckte die Achseln. „Als er noch seine Flügel hatte, war er ein mittelmäßiger Flieger, und ich glaube, er war auch kein besserer Lehrer. Er wollte immer Eindruck schinden und hat seine Schüler zu oft gelobt und sie überschätzt. Letztes Jahr hat er neun seiner Schüler zum Wettkampf angemeldet. Sie sind alle durchgefallen, denn sie haben sich keine Mühe gegeben. Ich hatte nur drei angemeldet. Man sagt, das verunglückte Mädchen war erst ein Jahr in Luftheim. Ein Jahr, Maris. Vielleicht hatte sie wirklich Talent, aber Nord hat sie zu früh zu weit fliegen lassen. Nun, und jetzt ist es zu spät. Die Akademien seien überbelegt, behaupten die Landmänner, um eine Entschuldigung zu finden. Sie haben Nord entlassen und die Schule geschlossen. Aus. Damit können die Kinder der Östlichen Inseln ihre Träume begraben. Sie müssen sich mit einem anderen Leben zufriedengeben.“ Ihre Stimme klang verbittert.
„Dann sind wir die letzten“, sagte Maris verdrossen.
„Ja, wir sind die letzten“, wiederholte Sena. „Und wer weiß für wie lange. Gestern nacht hat mir die Landfrau einen Boten geschickt. Ich stand extra auf, um die freudige Nachricht zu empfangen, und danach haben wir geredet. Sie ist nicht zufrieden mit uns, Maris. Sie sagt, sie hätte uns sieben Jahre lang mit Fleisch, einem Heim und Eisenmünzen versorgt, aber wir hätten ihr keine Flieger dafür gegeben. Sie ist ungeduldig.“
„Das glaube ich auch“, sagte Maris. Sie kannte die Landfrau von Seezahn nur vom Hörensagen, aber das genügte ihr. Seezahn liegt gleich neben Groß Shotan, aber es besaß eine lange wilde Geschichte von Unabhängigkeitskämpfen. Sein gegenwärtiger Herrscher war eine stolze, ehrgeizige Frau, die sehr ärgerlich darüber war, daß ihre Insel über keine eigenen Flieger verfügte. Sie hatte sich sehr dafür eingesetzt, Seezahn zu einer Fliegerschule des Westarchipels zu machen, deshalb hatte sie sie früher großzügig unterstützt. Aber nun wollte sie Ergebnisse sehen. „Sie versteht es nicht“, sagte Maris. „Kein Landgebundener kann es wirklich verstehen. Die Holzflügler kommen nahezu ungeschult zu den Wettbewerben, um mit passionierten Fliegern und Fliegerkindern, die mit Flügeln aufgewachsen sind, zu wetteifern. Wenn sie ihnen nur mehr Zeit geben würden …“
„Zeit, Zeit, Zeit“, sagte Sena. Eine Spur von Wut klang in ihrer Stimme mit. „Ja, das habe ich der Landfrau auch gesagt. Aber sie meint, sieben Jahre seien genug Zeit. Du bist ein Flieger, Maris. Auch ich war früher ein Flieger. Wir beide kennen die Schwierigkeiten. Sie brauchen jahrelanges Training. Sie müssen so lange üben, bis ihre Arme vor Anstrengung zittern und ihre Hände vom Festhalten der Flügel bluten. Davon haben die Landmänner keine Ahnung. Sie glauben, daß der Kampf vor sieben Jahren beendet wurde. Sie dachten, der Himmel wäre eine Woche später voller
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