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Kinder der Stürme

Kinder der Stürme

Titel: Kinder der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
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sind auch tot. Ich habe zwar noch einen Bruder, Coli, aber der befindet sich seit längerem auf einer Abenteuerreise zu den Äußeren Inseln. Dort will er singen. Das Haus auf Klein Amberly schien ohne Russ und Coli so schrecklich groß und leer. Weil niemand dort war, der auf mich wartete, bin ich immer seltener dorthin gegangen. Die Insel überlebt. Zweifellos sähe es der Landmann lieber, wenn auch sein dritter Flieger öfter zu Hause wäre, aber er muß sich mit zweien begnügen.“ Sie zuckte die Achseln. „Fast alle meine Freunde sind Flieger.“
    „Ich verstehe.“
    Maris sah S’Rella an, die auf die Flügel starrte und sie mit größerer Konzentration festhielt, als nötig war. „Aber du vermißt dein Zuhause?“ fragte Maris freundlich.
    S’Rella nickte zögernd. „Hier ist alles anders. Die Leute unterscheiden sich von den Leuten, die ich kannte.“
    „Ein Flieger muß sich daran gewöhnen“, sagte Maris.
    „Ja. Aber es gab’jemanden, den ich liebte. Wir sprachen von Heirat, obwohl wir wußten, daß es nie dazu kommen würde. Ich liebte ihn – und liebe ihn noch –, aber noch mehr hebe ich das Fliegen. Verstehst du das?“
    „Ja, das verstehe ich“, sagte Maris ermutigend. „Vielleicht, wenn du erst deine Flügel hast, könnte er …“
    „Nein. Er wird seine Insel niemals verlassen. Er kann es nicht. Er ist Bauer, und sein Land gehörte immer seiner Familie. Er – nun, er hat mich niemals gebeten, die Fliegerei aufzugeben, und ich habe niemals verlangt, daß er sein Land verläßt.“
    „Flieger haben aber schon früher Bauern geheiratet“, sagte Maris. „Du könntest zu ihm zurückkehren.“
    „Nicht ohne Flügel“, gab S’Rella heftig zurück. Ihr Blick traf den von Maris. „Ganz gleich, wie lange es dauert. Und falls … wenn ich meine Flügel erhalte, wird er schon verheiratet sein. Er muß es, denn die Landwirtschaft ist nichts für einen Alleinstehenden. Er wünscht sich eine Frau, die das Land liebt und viele Kinder haben will.“
    Maris sagte nichts.
    „Nun, ich habe mich entschieden“, sagte S’Rella. „Es war nur, manchmal habe ich halt … Heimweh. Ich fühle mich ein bißchen einsam.“
    „Ja“, sagte Maris und legte S’Rella die Hand auf die Schulter. „Komm, ich muß eine Nachricht überbringen.“
    S’Rella ging voraus. Maris legte ihre Flügel über die Schulter und folgte ihr durch einen dunklen Korridor zu einem gut geschützten Ausgang. Hinter seinen Toren lag eine Plattform, die früher Beobachtungszwecken gedient hatte. Der breite Steinsims lag achtzig Fuß über den Klippen, an denen sich die Schaumkronen der See brachen. Der Himmel war grau und bewölkt, aber der beißende Salzgeruch des Ozeans und die starken Hände des Windes heiterten Maris auf.
    S’Rella hielt die Flügel, während Maris sich die Haltegurte um den Körper schnallte. Als alles befestigt war, begann S’Rella die Flügel Strebe für Strebe zu entfalten und ließ sie einrasten, bis die Silberfolie gespannt war. Maris wartete geduldig, denn sie war sich ihrer Rolle als Lehrer bewußt, aber innerlich fieberte sie dem Start entgegen. Als die Flügel voll ausgespreizt waren, lächelte sie S’Rella an, steckte die Arme in die Schlaufen und legte die Hände um die abgegriffenen, vertrauten Ledergriffe der Flügel.
    Dann, vier schnelle Schritte, und sie war gestartet.
    Für eine Sekunde oder weniger fiel sie, aber dann fing der Wind sie auf, schlug gegen die Flügel, hob sie und verwandelte den Sturz in einen Flug. Ein Schauer durchlief ihren Körper. Das Blut pulsierte in den Adern. Der Schock nahm ihr den Atem, und ihre Haut prickelte. Dieser kurze Augenblick, der Bruchteil einer Sekunde, wog alles auf. Es war schöner und aufregender als jede Empfindung, die sie kannte, schöner als die Liebe, schöner als alles andere. Lebendig und hoch oben gab sie sich den westlichen Winden hin, wie der Umarmung eines Liebhabers.
    Groß Shotan lag im Norden, aber im Augenblick überließ sich Maris den vorherrschenden Winden und genoß die Freiheit der Höhe, bevor sie ihr Spiel mit den Luftströmungen begann. Dann mußte sie gegen den Wind fliegen, kreuzen und ihn dazu bringen, sie in ihre gewünschte Richtung zu tragen. Ein Schwärm von Regenvögeln schoß hinter ihr vorbei, jedes Tier leuchtete in einer anderen Farbe. Ihre Eile verkündete einen aufkommenden Sturm. Maris folgte ihnen und stieg immer höher, bis Seezahn nur noch ein graugrüner Fleck und kleiner als ihre Hand war. Sie konnte

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