Kinder der Stürme
verschaffen. Als sie jedoch ausgesprochen hatte, war es plötzlich sehr still.
Maris ließ sich ein Stück schwarzes Brot, eine Schüssel Porridge und Honig von Kerr geben, einem pausbäckigen Jungen, der heute das Frühstück zubereitet hatte, und nahm auf einer der Bänke Platz. Während sie aß, unterhielt sich Maris freundlich mit den Studenten, die neben ihr auf der Bank saßen. Aber sie spürte, daß sie nicht bei der Sache waren, und nach kurzer Zeit entschuldigten sie sich und gingen hinaus. Maris war ihnen nicht böse. Sie erinnerte sich, wie sie sich vor Jahren gefühlt hatte, als ihr eigener Traum, ein Flieger zu sein, in Gefahr geraten war. Luftheim war nicht die erste Akademie, die ihre Tore schließen mußte. Der trostlose Inselkontinent Artellia hatte zuerst, nach drei Jahren des Mißerfolgs, aufgegeben, und die Akademie des Südarchipels und die der Äußeren Inseln waren bald gefolgt. Luftheim, die Akademie der Östlichen Inseln, hatte als vierte geschlossen. Nun gab es nur noch Holzflügel. Kein Wunder also, daß die Studenten bedrückt waren.
Maris wischte den Teller mit dem letzten Stück Brot sauber, aß es und rückte vom Tisch ab. „Sena, vor morgen früh werde ich nicht zurück sein“, sagte sie und stand auf. „Auf dem Rückflug werde ich auf Eyrie zwischenlanden.“
Sena blickte von ihrem Teller auf und nickte. „Ja, in Ordnung. Für heute habe ich geplant, daß Leya und Kurt ihre ersten Flugversuche unternehmen. Der Rest soll sportliche Übungen ausführen. Komm so schnell zurück, wie du kannst.“ Sie wandte sich wieder ihrem Essen zu.
Maris spürte, daß jemand hinter ihr stand. Sie drehte sich um und sah S’Rella.
„Kann ich dir beim Anlegen der Flügel helfen, Maris?“
„Ja gern, wenn du magst. Vielen Dank.“
Das Mädchen lächelte. Zusammen gingen sie den kurzen Korridor entlang zu dem kleinen Raum, in dem die Flügel aufbewahrt wurden. Drei Flügelpaare hingen an der Wand. Maris’ eigenes und zwei andere, die der Akademie gehörten, Hinterlassenschaften von Fliegern, die ohne Erben verstorben waren. Es war also keine Überraschung, daß die Schüler von Holzflügel in den Wettbewerben so schlecht abschnitten, dachte Maris verbittert. Ein Flieger ließ sein Kind während der Ausbildungsjähre täglich fliegen, aber die Akademien hatten so viele Studenten und so wenig Flügel, daß dem einzelnen kaum Übungszeit zur Verfügung stand. Aber auch auf dem Boden konnte man wichtige Übungen durchführen.
Sie vertrieb ihre Gedanken und nahm die Flügel vom Haken. Dann legte sie die Flügel mit den gefalteten Stützen zusammen, die Metallfolie hing schlaff wie ein silbernes Cape herunter. S’Rella hielt die Flügel mit einer Hand hoch, während Maris sie nach und nach wieder entfaltete und die Streben und Verbindungen sorgfältig mit Fingern und Augen überprüfte. Wenn etwas nicht in Ordnung war, mußte sie es jetzt feststellen – in der Luft war es zu spät.
„Es ist schlimm, daß sie Luftheim geschlossen haben“, sagte S’Rella, während Maris an den Flügeln arbeitete. „Das gleiche ist auch auf den Südlichen Inseln geschehen. Deswegen mußte ich hierher, nach Holzflügel kommen. Unsere eigene Schule wurde geschlossen.“.
Maris hielt inne und sah sie an. Fast hatte sie vergessen, daß das schüchterne Mädchen von den Südlichen Inseln Opfer einer früheren Schüeßung war. „Einer der Studenten von Luftheim wird zu uns kommen“, sagte Maris, „dann bist du nicht mehr so allein unter den Wilden Westlern.“ Sie lächelte.
„Vermißt du dein Zuhause?“ fragte S’Rella plötzlich.
Maris dachte einen Augenblick nach. „Ganz ehrlich, ich weiß gar nicht, ob ich ein Zuhause habe“, sagte sie. „Mein Zuhause ist dort, wo ich mich gerade aufhalte.“
Schweigend dachte S’Rella über diese Antwort nach. „Das ist die richtige Einstellung für einen Flieger. Denken die meisten Flieger so?“
„Ein bißchen vielleicht“, sagte Maris. Sie betrachtete wieder ihre Flügel und arbeitete weiter. „Aber doch nicht so wie ich. Die meisten Flieger fühlen sich stärker an ihre Heimatinsel gebunden als ich, aber doch wieder nicht so stark wie die Landgebundenen. Kannst du mir helfen, sie zu spannen? Danke! Nein, ich denke nicht nur so, weil ich ein Flieger bin, sondern weil ich mein altes Zuhause verloren und auch kein neues gefunden habe. Mein Vater, das heißt, mein Stiefvater starb vor drei Jahren. Seine Frau starb lange vor ihm, und meine leiblichen Eltern
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