Kinder der Stürme
Flügel zwar noch nicht lange, aber sie war ein echter Flieger, einer der besten. Jeder mochte sie. In einem fairen Kampf hätte Val sie nie besiegen können.“
„Val hat sie besiegt.“
„Ich sprach mit ihr auf Eyrie, gleich nach dem Tod ihres Bruders“, sagte Maris. „Sie hatte alles mit angesehen. Er war mit seinem Boot draußen und hatte Angeln für die Mondfische ausgelegt. Sie flog über ihn hinweg, um auf ihn aufzupassen. Als sie die Szylla kommen sah, war sie zuweit entfernt, und der Wind verwehte ihren Warnruf. Sie versuchte näher heranzufliegen, aber sie kam zu spät. Sie sah, wie das Boot zerschmettert wurde und der Hals der Szylla aus dem Wasser ragte. Das Untier hatte den Körper ihres Bruders im Maul. Dann tauchte es unter.“
„Sie hätte nicht an den Wettkämpfen teilnehmen sollen“, sagte Sena einfach.
„Es war erst eine Woche her“, sagte Maris. „Sie wollte überhaupt nicht teilnehmen, aber an diesem Tag war sie in Eyrie und saß so verzweifelt da. Alle dachten, es würde sie etwas aufheitern. Die Spiele, die Wettflüge, das Singen und das Trinken. Wir alle haben sie überredet, weil wir uns nicht träumen ließen, daß jemand sie herausfordern würde. Nicht in ihrer Verfassung.“
„Sie kannte die Regeln, die von der Versammlung aufgestellt worden waren“, beteuerte Sena. „Deiner Versammlung, Maris. Jeder Flieger, der bei den Wettkämpfen erscheint, darf herausgefordert werden, und kein gesunder Flieger darf den Wettkämpfen länger als zwei Jahre fernbleiben.“
Maris wandte sich wieder der Lehrerin zu und sah sie finster an. „Du sprichst vom Gesetz. Wo bleibt die Menschlichkeit? Ja, Ari hätte den Wettkämpfen fernbleiben sollen. Aber sie versuchte verzweifelt weiterzuleben, sie mußte unter ihren Freunden sein, um ihren Schmerz zeitweilig zu vergessen. Wir haben sie bewacht. Sie wirkte so unbeholfen, als hätte sie oft vergessen, was sie tat oder wo sie war, aber wir sorgten für ihre Sicherheit. Sie genoß den Wettkampf, und niemand konnte es glauben, als dieser Junge sie herausforderte.“
„Junge“, wiederholte Sena. „Du hast das richtige Wort gebraucht, Maris. Er war erst fünfzehn.“
„Er wußte, was er tat. Die Richter versuchten ihm die Umstände begreiflich zu machen, aber er wollte die Herausforderung nicht zurückziehen. Er flog gut und Ari schlecht, das war alles. Danach gehörten ihre Flügel Einflügler. Und nur einen Monat später hat sie sich das Leben genommen.“
„Val war meilenweit entfernt, als es geschah“, sagte Sena. „Die Flieger hatten keinen Grund, ihm die Schuld zu geben, auch war es nicht gerechtfertigt, was sie ihm ein Jahr später beim Wettkampf von Cullhall antaten. Herausforderung folgte auf Herausforderung. Vom Fliegerveteran bis zu Kindern, die gerade flugjährig geworden waren, forderten ihn alle heraus, auch die Besten und Talentiertesten schonten ihn nicht.“
„Es gab kein Gesetz, das mehrmalige Herausforderungen verbot“, verteidigte sich Maris.
„Ich weiß wohl, daß es heute ein Gesetz dagegen gibt. Wo also bleibt die Fairneß?“
„Das spielt keine Rolle, er unterlag schon bei der zweiten Herausforderung.“
„Ja, ein Mädchen, das seit seinem siebten Lebensjahr geübt hatte und dessen Vater der ehemalige Flieger von Klein Shotan war, besiegte ihn, nachdem er der ersten Herausforderung getrotzt hatte“, sagte Sena. Sie schnaubte wütend und erhob sich aus ihrem Stuhl. „Und welchen Grund hatte er, gegen das Mädchen sein ganzes Können zu zeigen? Nach ihr wartete schon ein anderer Herausforderer, und hinter dem ein Dutzend weitere. Und ihr alle habt ihm gesagt, er wäre sowieso nur ein halber Flieger.“ Sie ging zur Tür.
„Wohin gehst du?“ fragte Maris.
„Zum Essen“, sagte Sena barsch. „Ich habe Neuigkeiten für meine Studenten.“
Am nächsten Morgen kam Val während des Frühstücks an. Sena löffelte ihr Ei in eisiger Stille, während die Schüler sie neugierig anstarrten. Maris saß in einiger Entfernung von der Lehrerin und hörte S’Rella und dem kräftigen jungen Liane zu, die versuchten, Dana, die älteste Schülerin von Holzflügel, zum Bleiben zu überreden. In der vorausgegangenen Nacht hatte Sena die Namen derer bekanntgegeben, die sie für die Wettkämpfe anmelden wollte. Die entmutigte Dana wollte nach Hause zurückkehren und ihr früheres Leben wieder aufnehmen. S’Rella und Liane gelang es nicht, sie zu überzeugen. Ab und zu fügte Maris einige Worte über die Wichtigkeit von
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