Kinder der Stürme
Närrin“, sagte der junge Mann. „Er hat Fieber. Er phantasiert. Er ist die Klippen hinuntergestürzt, als er Dracheneier suchte. Einen ganzen Tag hat er dort gelegen, bevor wir ihn gefunden haben. Bitte.“
„Auf dem uns gegenüberliegenden Ende von Groß Shotan lebt eine Heilerin namens Fila“, sagte Sena. „Sie ist alt und schrullig und unternimmt keine Seereisen, aber ihre Tochter, die bei ihr lebt, beherrscht ihre Kunst. Wenn sie nicht selber kommen kann, wird sie dir jemanden nennen. Vergeude keine Zeit in Sturmstadt. Die Heiler dort werden erst dein Metall wiegen wollen, bevor sie ihre Kräuter sammeln wollen. Aber halte an der südlichen Landestelle und bitte den Kapitän der Fähre, auf einen wichtigen Passagier zu warten.“
„Ich breche sofort auf“, sagte Maris und warf dem dampfenden Essen auf dem Feuer nur einen kurzen Blick zu. Sie hatte Hunger, aber der mußte warten. „S’Rella und Kerr, helft mir beim Anlegen der Flügel.“
„Danke“, sagte der Fremde, aber Maris und die Studenten waren schon gegangen.
Der Sturm draußen hatte sich endlich gelegt. Maris dankte ihrem Glück und flog geradeaus über den salzigen Kanal. Sie glitt nur wenige Fuß über den Wellen dahin. Es war gefährlich, so tief zu fliegen, aber sie hatte keine Zeit, Höhe zu gewinnen, zudem kamen die Szyllas nur selten so nah ans Land. Der Flug dauerte nicht lange. Fila war leicht zu finden, aber wie Sena vorausgesagt hatte, weigerte sie sich. „Das Wasser macht mich krank“, murmelte sie. „Und der Junge auf Seezahn glaubt sowieso, er wäre besser als ich. Das hat er schon immer gesagt, dieser junge Narr, und nun bittet er mich um Hilfe.“ Aber ihre Tochter entschuldigte sich für sie und machte sich schon kurz danach auf den Weg zur Fähre.
Auf dem Rückflug genoß Maris das sinnliche Gefühl des Windes, als wollte sie einen Ausgleich für den nüchternen Zweckflug auf dem Hinweg nach Groß Shotan schaffen. Die Sturmwolken waren verschwunden, die Sonne glitzerte auf dem Wasser, und ein Regenbogen wölbte sich am östlichen Himmel. Maris suchte die warme Thermik, die von Shotan aufstieg, und erschreckte einen Schwann Sommervögel, als sie aus der Tiefe zu ihnen stieß. Sie lachte, als sie verwirrt auseinanderstoben, und legte sich in die Kurve. Ihr Körper antwortete gewohnheitsmäßig auf die sich ständig ändernden Anforderungen des Windes. Die Vögel flogen in alle Richtungen davon, einige nach Seezahn, andere nach Eiland oder Groß Shotan, und wieder andere flogen auf die offene See hinaus. Und weit draußen sah sie – sie kniff die Augen zusammen, um genauer sehen zu können. Eine Szylla, deren langer Hals aus dem Wasser ragte, um einen unvorsichtigen Vogel zu schnappen? Nein, es waren mehrere Umrisse. Eine Herde von Seekatzen auf der Jagd. Oder Schiffe.
Sie flog einen Bogen und glitt über den Ozean. Hinter ihr blieben die Inseln zurück, und sehr bald war sie sich sicher. Es waren fünf Schiffe, die in Formation segelten. Als der Wind sie näher heranbrachte, konnte sie auch die Farben erkennen, die verblaßte Bemalung der Leinensegel, die ausgefransten Wimpel, die im Wind flatterten. Alle Schiffsrümpfe waren schwarz. Hiesige Schiffe waren weniger auffällig, jene mußten also von weit her kommen. Eine Handelsflotte der östlichen Inseln. Sie ließ sich so tief hinabgleiten, daß sie die Mannschaft bei ihrer harten Arbeit beobachten konnte. Sie setzten Segel, zogen an Tauen und versuchten verzweifelt im Wind zu bleiben. Einige sahen zu ihr hinauf, riefen ihr etwas zu und winkten, aber die meisten konzentrierten sich auf ihre Arbeit. Auf den offenen Meeren von Windhaven zu segeln war immer ein gefährliches Geschäft. Viele Monate im Jahr war es wegen der rasenden Stürme unmöglich, von einer Inselgruppe zur anderen zu gelangen. Für Maris war der Wind ein Liebhaber, aber für die Seeleute war er ein lächelnder Mörder, der Freundschaft vorgaukelte, nur um bei der erstbesten Gelegenheit ein Segel zu zerreißen oder ein Schiff an einem unsichtbaren Felsen zu zerschmettern. Ein Schiff war zu groß, um wie ein Flieger mit dem Wind zu spielen; ein Schiff focht einen ständigen Kampf mit dem Wind aus.
Aber diese Schiffe waren jetzt in Sicherheit. Der Sturm hatte sich gelegt, und vor Sonnenuntergang würde er nicht wieder losbrechen. Heute Nacht würde es in Sturmstadt ein Fest geben, denn die Ankunft einer so großen Handelsflotte von den Östlichen Inseln war immer ein Ereignis. Nahezu ein Drittel der
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