Kinder des Donners
sicher noch andere Kinder hatte. Sie wollte ihre Halbschwestern und vor allem ihre Halbbrüder kennenlernen. Sie wollte Jungen kennenlernen, mit denen sie ... Doch an diesem Punkt stockte selbst ihre fieberhafte Phantasie. Und überhaupt war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um an solche Sachen zu denken.
Sie legte ihr Gesicht sorgfältig zu einer Maske zu- recht, in der sich Verwirrung und Besorgnis mischten — da es offenbar das war, was man von ihr erwartete —, und wandte sich mit einem Blick, in dem eine wortlose Frage lag, an Mr. Corkran.
Er zog ein Taschentuch aus der Brusttasche seines
Jacketts und wischte sich die Stirn, bevor er antwortete.
»Ich möchte nicht lange um die Sache herumreden, Miss Clancy. Es ist meine traurige Pflicht, Ihnen zu er- öffnen, daß Ihre Mutter sie nicht mehr besuchen wird.«
»Wollen Sie damit sagen ...?« flüsterte Dymphna mit einer gekonnten Darbietung von banger Sorge, die einer
professionellen Schauspielerin alle Ehre gemacht hätte.
Mr. Corkran nickte feierlich. »So ist es in der Tat. Sie schied heute am frühen Abend dahin, nach einem Herz-
anfall. Alles, was getan werden konnte, wurde getan, das versichere ich Ihnen. Und der Arzt, der gerufen worden war, erklärte, daß sie bestimmt nicht viel leiden mußte.«
Eine Zeitlang herrschte Stille. Sie alle starrten sie er- wartungsvoll an. Welche Art der Reaktion wollten sie
sehen? Sollte sie in Tränen ausbrechen? Mutter Aloysia hatte sie angewiesen, tapfer zu bleiben, das konnte es also wohl nicht sein ... — Ach, natürlich!
Als ob sie ein Schluchzen unterdrücken würde, fragte
sie gepreßt: »Hatte sie noch genügend Zeit, um mit ei-
nem Geistlichen zu sprechen?«
Sie entspannten sich. Sie hatte richtig geraten. Mit ei- nem Tonfall noch nie dagewesener Zärtlichkeit antwor- tete Schwester Ursula — normalerweise die verbissen-
ste Verfechterin einer strengen Erziehung.
»Ich fürchte, meine Liebe, als er kam, war deine Mut- ter bereits nicht mehr bei Besinnung. Doch uns wurde versichert, daß sie noch vor ganz kurzer Zeit die Beichte abgelegt hatte. Ihre arme, schwache Seele kann also nur mit sehr wenig Sünde beladen gewesen sein.«
»Und übrigens«, murmelte Vater Rogan, »verfährt Gott gnädig mit jenen, die lange Zeit für eine jugendli-
che Verfehlung sühnen.«
Er bekreuzigte sich; die anderen machten es ihm nach, und Dymphna beeilte sich, es ihnen ebenfalls
gleichzutun. Dann senkte sich wieder Schweigen herab.
Was sollte sie jetzt tun? Mehrere Möglichkeiten ka-
men ihr in den Sinn, und sie entschied sich für jene, die — wie sie annahm — am wahrscheinlichsten Schwester Ursulas Zustimmung finden würde. Mutter Aloysia war im Vergleich zu ihr eine Randfigur, warum die Mädchen auch, wenn sie davon sprachen, in ihr Büro zu gehen, den Ausdruck gebrauchten »Zur Audienz gebeten wer- den«. Sie beugte sich vor und probierte es auf gut Glück. »Muß ich bitte nicht gleich wieder in den Schlaf- saal zurück? Ich ...« — sie fügte einen überzeugenden
Bruch ihrer Stimme ein — »ich möchte eine Weile allein sein. In der Kapelle.«
Schwester Ursula warf der Mutter Oberin einen Blick zu. Nach kurzem Zögern nickte die letztere.
»Ich denke, unter den gegebenen Umständen ist das angemessen. Sagen wir ... äh ... eine halbe Stunde? Das übrige können wir morgen früh besprechen: die Vorbereitungen für die Beerdigung und die anderen
traurigen Obliegenheiten. Schwester Ursula, bitte be- gleiten Sie Dymphna in die Kapelle, dann gehen Sie bit- te in den Schlafsaal und unterrichten die Kinder über den Vorfall, um zu verhindern, daß irgendwelches tö- richte Geschwätz entsteht. Erklären Sie ihnen, daß sie in dieser Zeit der Prüfung besonders freundlich zu ihrer Kameradin sein müssen.«
»Ja, Mutter Oberin«, sagte Schwester Ursula und er- hob sich. »Komm, mein Kind!«
Auf der Schwelle wandte sich Dymphna um. Fast un- hörbar sagte sie: »Vielen Dank, Mr. Corkran, daß sie sich die Mühe gemacht haben, es mir persönlich zu sa- gen. Ich weiß es zu schätzen.«
Als die Tür zugefallen war, sagte der Rechtsanwalt bewegt: »Sie hat es erstaunlich gut aufgenommen. Ich war ziemlich besorgt, sie würde ... Und sie ist überaus höflich, nebenbei bemerkt. Ihr erzieherisches Niveau
muß sehr hoch sein.«
Wenn das nicht auch eine ungehörige Manifestation
von Stolz gewesen wäre, hätte man fast behaupten kön- nen, Mutter Aloysia schwoll bei diesem Kompliment an. Doch sie sagte nur: »Wir
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