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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Jimenez
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ausländischen Journalisten in Peking, weil die Seele beider Berufe ja das Reisen ist; das Verlassen der eigenen Welt, um eine andere kennen zu lernen, eine sowohl innerliche wie äußerliche Reise.
    Was man auf Reisen lernen kann – solange man darunter nicht Urlaub in hermetisch abgeschotteten Fünf-Sterne-Clubs versteht –, zumindest, was ich selbst beim Reisen erfahren habe, ist, wie sehr Menschen einander ähneln. Die Sorgen einer Mutter in Oslo und einer anderen in Peking sind die gleichen. Rivalitäten, Neid und Niedertracht finden sich an der Wall Street ebenso wie in einem kleinen Dorf im kambodschanischen Dschungel. Und auch die Großzügigkeit ist überall gleichermaßen verbreitet, bei einem Bauern in Birma, der einem das Wenige anbietet, was er hat, ebenso wie bei einer Gruppe junger Leute in London, die sonntags Tee an die Bettler ausschenken. Nur die Mittel und Umstände sind andere. Wenn wir seit der Shoa Völkermorde wie in Afrika (Ruanda), Asien (Kambodscha) und Europa (Balkan) erlebt haben, so weil es in den Tropen wie in der Arktis die gleiche Fähigkeit zum Schlechten wie zum Guten gibt, niemand hat ein alleiniges Anrecht darauf. Es gibt keine besseren oder schlechteren Völker. Die Wünsche und Sehnsüchte |261| der Menschen ebenso wie die Sorgen und Befürchtungen und die Gründe für Glück und Unglück gleichen sich überall.
    So reist man in ein Land, das einem einst fern und fremd erschien, und stellt fest, dass bei den anderen nur die Hautfarbe anders ist, die Ähnlichkeiten aber – bei weitem – überwiegen. Daher ist das Reisen eine so heilsame Therapie gegen Rassismus, Standesdünkel und Vorurteile. Meine Landsleute überrascht es, wenn ich ihnen sage, dass wir Spanier mehr mit den Chinesen gemein haben als mit den Norwegern, vom Familiensinn bis hin zu den sozialen Beziehungen, doch auch Norweger und Chinesen sind so verschieden nicht. Reisen lehrt, dass das, was uns verbindet, viel wesentlicher ist als die Unterschiede. Wenn viele Diplomaten, Politiker und Journalisten glauben, Demokratie sei in bestimmten Ländern nicht so wichtig, beweisen sie damit nur ein erstaunliches Maß an Begriffsstutzigkeit. Sie sind gereist, ohne je von zu Hause weggekommen zu sein.
    Vielleicht ist die schauerliche Faszination, die mich angesichts der Maxime befällt, den Einzelnen grundsätzlich für das Wohl des Kollektivs zu opfern, nicht ganz unschuldig daran, dass ich etliche Male den Jangtse bereist habe. Hier konnte man lange Zeit Orte sehen, die es seit der Fertigstellung des Drei-Schluchten-Staudamms nicht mehr gibt. Eine von staatlichen Funktionären gezeichnete rote Linie durchschnitt Dörfer und Städte neben dem Fluss und markierte die Häuser, Tempel, Schulen, Restaurants, Straßen und Erinnerungen, die das Wasser nach der Überflutung verschluckt hat.
    *
    »Überflutungsmarke 157,8 Meter« steht auf einem Schild in der Stadt Fengdu. Auf dem kleinen Kai am Fluss warten einige Familien auf die Boote, die sie weit fort von hier in ein neues Leben bringen werden. Die Regierung hat ihnen mitgeteilt, dass sie »umgesetzt« werden wie störende Möbelstücke. Die Glücklichen unter |262| ihnen erhalten im neuen Fengdu auf der anderen Seite des Flusses ein neues Haus in größerer Höhe. Die übrigen müssen an Orte abwandern, die ihnen von der Obrigkeit zugewiesen wurden – und sagen Sie mir nicht, dass Sie nicht gerne in der Inneren Mongolei leben möchten…
    Seit wann wird man in einer Diktatur vor die Wahl gestellt?
    Einige Nachbarn haben die letzten Tage damit verbracht, ihre Toten auszugraben, und nehmen ihre Überreste mit auf die Reise. Die Ahnen sind in China wichtig, ein Teil von einem selbst, man muss sich um sie kümmern und dafür sorgen, dass es ihnen im Jenseits gut geht. Es wäre nicht gut, den Ururgroßvater zurückzulassen. Vom Kai aus sind es nur ein paar Schritte bis zum Kern der Altstadt, ein kurzer Weg, der sehr weit zurück in die Vergangenheit in ein anderes China führt. Fengdu steht unerschütterlich an diesem Ort seit 2300 Jahren. Und nun wird es einfach so verschwinden. In einem kleinen, namenlosen Restaurant sitzt etwa ein Dutzend Gäste und speist frittierte Nudeln, Schweinefleisch und Reis. Man lädt mich ein und macht mir Platz am Tisch. Das chinesische Essen ist nicht für den Alleinreisenden gemacht. Die Gerichte sind immer üppig, die Tische rund, alles ist zum Teilen ausgelegt. Wir sprechen vom Drei-Schluchten-Staudamm. Alle sagen, was für eine großartige

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