Kinder des Monsuns
Anziehen und Arbeit, das war der Gipfel der Ambitionen. Das Glück lag in den kleinen Dingen. Vor Chaojun liegt die ganze Welt.«
Neben ihrer Mutter spielt das Mädchen die Ballade Nr. 3 von Chopin und nickt mit dem Kopf, während sie ihren Oberkörper zum Takt der Noten hin und her wiegt und die Augen schließt, um nicht aus dem Rhythmus zu kommen.
»Sie war immer sehr nervös«, bemerkt ihre Mutter. »Das Klavier ist der einzige Ort, wo sie ruhig sein kann.«
»Eines Tages werde ich wie Lang Lang sein«, unterbricht Chaojun. Der junge chinesische Pianist wird seit seinem Debüt in der Carnegie Hall 2001 in den Konzertsälen der ganzen Welt gefeiert. »Ich werde Pianistin!«
»Spiel noch etwas für unseren Gast«, bittet sie Herr Yang, während Zhu Li noch Tee nachschenkt und Bonbons reicht.
»Hmmhmm. Würde Ihnen etwas von Chopin gefallen?«, fragt Chaojun, streicht sich die Zöpfe von der Schulter und lässt ihre Finger erneut über die Tasten fliegen.
Meine mangelnde musikalische Bildung verbietet es mir, zu beurteilen, ob die kleine Pianistin einmal so gut sein wird wie Lang Lang, oder ob ihre Entwicklung auf dem Weg dahin ins Stocken gerät, doch ich finde ihre Antwort beunruhigend, als ich sie frage, was sie beim Spielen fühlt.
»Nichts«, antwortet sie. »Ich spüre nichts. Ich spiele nur.«
*
Nur schwer findet man ein Volk, das mit größerer Entschlossenheit und Leidensbereitschaft voranzukommen sucht, als das chinesische. Den Chinesen wurde nichts geschenkt, und nun spüren |259| sie, dass für sie endlich der Augeblick gekommen ist, ein Land der Möglichkeiten zu verwirklichen, das es im Gegensatz zu den Philippinen oder Kambodscha geschafft hat, die Lethargie der Armut zu durchbrechen und unaufhaltsam in die Zukunft voranzuschreiten. Die Menschenhändler, die Tausende von Chinesen nach Europa, Australien und Amerika schleusten, der größten Diaspora der Menschheitsgeschichte, verlieren unablässig an Kundschaft. Hier, in China, bietet sich diesen Menschen nun auch die Chance auf ein besseres Leben. Warum also fortgehen? Wahrscheinlich hat sich in der Geschichte der Menschheit kein Land in so kurzer Zeit so schnell entwickelt wie China in den ersten drei Jahrzehnten seiner wirtschaftlichen Öffnung, in denen es Hunderte Millionen seiner Bürger aus der Armut holte – auch wenn weitere Hunderte Millionen Bauern noch in ihr gefangen bleiben. Nach so vielen gescheiterten Versuchen hat sich der chinesische Aufbruch endlich in eine Realität verwandelt.
Hunger und Krieg gehören der Vergangenheit an. Die Zeit, als die Chinesen vor der Welt den Kopf senken mussten, scheint eine Ewigkeit her. Führende Politiker aus aller Welt stehen in diesen Tagen Schlange für eine Audienz bei den neuen Kaisern. In weite Ferne sind auch die Demütigungen des Kolonialismus gerückt. Heute ist es China, das Länder wie Tibet knechtet. Es ist auch lange her, dass die chinesischen Führer glaubten, alle Macht käme aus den Gewehrläufen – »Es ist die Wirtschaft, Dummkopf!«. China ist nun im Begriff, den Platz in der Welt einzunehmen, den es zu verdienen glaubt. Und dennoch, eine Idee scheint sich unverrückbar in den Köpfen der chinesischen Machthaber festgesetzt zu haben, als ob die Zeit stillstünde: Das Wohl des Einzelnen ist dem des Kollektivs zu opfern.
Von dieser Idee ließen sich die asiatischen Gesellschaften, manche mehr, manche weniger, durch die Geschichte hindurch leiten. Sie ist Teil der vermeintlichen »asiatischen Werte«, die so viele kleine Diktatoren der Region ausgenutzt haben, um ihre Machtausübung zu rechtfertigen und ihre Völker zu unterdrücken. |260| Wenn die Gesellschaft wichtiger ist als das Individuum, was kann dann schlecht daran sein, wenn man diejenigen wegsperrt, die mit den anderen nicht an einem Strang ziehen wollen, die aus der Reihe tanzen und gegen den Strom schwimmen? Ist es zum Wohle gesellschaftlicher Harmonie nicht gerechtfertigt, einzelne Menschen zu ruinieren?
Jahrhundertelang wurde die Diktatur in Asien als Naturzustand betrachtet, und noch heute hält sich bei manch einem im Westen die Überzeugung, dass Demokratie in Ländern wie China nicht möglich sei, weil seine Bürger sie angeblich nicht wollten oder nicht auf sie vorbereitet seien, als wären Werte wie persönliche Freiheit, freie Meinungsäußerung oder demokratische Wahlen an die Hautfarbe oder den Geburtsort gebunden. Diese Argumentation überrascht mich besonders aus dem Mund von Diplomaten und
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