Kinder des Monsuns
Idee das ist, die Regierung kann sich nicht irren, sie tue ja alles nur zum Besten der Bürger. Wenn die Leute hier etwas anderes denken, dann werden sie es einem Neuankömmling und Ausländer und, schlimmer noch, einem Journalisten bestimmt nicht auf die Nase binden.
Seit wann darf man in einer Diktatur seine Meinung frei äußern?
Das Lokal führt Jiang, eine winzige, mollige Frau mit roten Pausbäckchen.
»Wir werden das Geschäft schließen müssen«, sagt sie, ohne die Situation zu dramatisieren. Manchmal kommt so etwas im Leben eben vor.
Frau Jiang stellt mich ihrer Tochter vor und fragt mich, ob ich |263| nicht Interesse hätte, sie mit nach Europa zu nehmen, da sie unverheiratet und eine gute Köchin ist, und dass ich mich nicht um die Vorbereitung der Hochzeit sorgen müsse, alles ließe sich sofort organisieren, morgen, wenn Sie es eilig haben. Mir fällt ein altes Mao-Porträt in einem Holzrahmen an der Wand auf. Es ist eine schlechte Karikatur des großen Steuermanns. Auf das Deckglas ist neben ihn ein rotes Herz gemalt.
»Mao, Mao, Mao«, rufen alle im Restaurant im Chor, als sie sehen, dass ich es staunend betrachte.
Frau Jiang steigt auf einen Stuhl, hängt das Bild ab und bietet es mir an. Sie weiß, dass die Tage des Restaurants, des Lebens, so wie sie es kennt, gezählt sind und hat beschlossen, dass zu den Dingen, die gerettet werden sollen, ihre Tochter und Mao gehören. Ich erkläre ihr, dass ich nur das Porträt mitnehmen könne, und sie lacht.
»Du nimmst unsere Sonne mit«, sagt sie und sieht mir die Kränkung nach.
Ich wusste nie, was ich mit dem Mao-Porträt anstellen sollte. Ich danke ihr für ihre Liebenswürdigkeit, doch ich konnte das Bild des Diktators, dem ein dümmliches Grinsen ins Gesicht gemalt ist, nicht lange ertragen. Ich habe es immer kritisiert, wenn sich Leute auf den Märkten von Hongkong oder Peking Schlüsselanhänger, kleine Statuen oder Bilder von Mao kaufen. Ich nenne es das »Teddybär-Diktator«-Syndrom, das Diktatoren mit beinahe liebevoller Nostalgie umhüllt wie einen ruppigen Großvater, der aber im Grunde kein schlechter Kerl war. Jetzt ist das Bild im Schrank verschwunden, zusammen mit anderen Reiseerinnerungen: der alte russische Fotoapparat mit Stativ aus Dschalalabad, die Maske mit einer Nase in Phallusform, wie man sie in Bhutan zur Abwehr der bösen Geister über die Haustüren hängt, und das Buch
Über die
Filmkunst
von Kim Jong Il, das ich in Pjöngjang gekauft habe.
Der Drei-Schluchten-Staudamm ist in den Augen der Erben Maos eine zweite Chinesische Mauer, auch wenn mit den Jahren der Verdacht gewachsen ist, dass die Vorteile des Damms weit geringer |264| sind als die Schäden, die er anrichten wird. Die Partei sagt: Es ist ein entscheidendes Projekt für das Vaterland, Beweis für die Großartigkeit des chinesischen Volkes. Kein Zweifel, ein großartiges Werk ist es. Über 20 000 Werktätige machten sich auf dem gewaltigen Damm von 185 Meter Höhe zu schaffen wie eine Armee von Ameisen. »Streng dich für das Vaterland an«, lasen die Arbeiter des kolossalen Projekts auf riesigen Tafeln an den Berghängen ringsum. »Seid stolz auf den Drei-Schluchten-Damm«, hieß es auf einem anderen.
Die chinesischen Führer wollten den Jangtse schon immer bändigen. Anfang der zwanziger Jahre träumte der Nationalistenführer Sun Yat-sen bereits von einer großen Mauer, um den Fluss zu stauen, und Mao schrieb 1956 ein Gedicht, in dem er ankündigte, dass man im Westen »Mauern aus Stein gegen den Strom errichten« werde. Die Monsunwinde bringen im Sommer häufig große Unwetter, und Tausende kommen um, wenn der Fluss über die Ufer tritt, wie es alle paar Jahre geschieht. Der Strom muss also gebändigt, beherrscht werden. Nichts ist größer als China, nichts steht über der Partei, nicht einmal du, Jangtse, der du dem Vaterland so viel gegeben und genommen hast.
Als die Diktatoren von Peking 1992 beschließen, den Damm zu bauen, stoßen sie nur auf anderthalb Millionen Hindernisse: die Menschen, die sich ein Leben am Ufer des Flusses geschaffen haben, seit sich ihre Vorfahren 8 000 Jahre zuvor in diesem Gebiet niederließen. Schon der Vorstudie über die Auswirkungen des Projektes war zu entnehmen, dass der durch den Damm geschaffene künstliche See mit einer Länge von über 600 Kilometern 13 Städte, 1 352 Kleinstädte und 140 Dörfer verschlucken würde. Die Geschichtsschreibung kommt mit dem Zählen nicht mit, wie oft die chinesischen Führer von
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