Kinder des Monsuns
dieser Weg eine Autobahnstrecke von 1 000 Kilometern, dann stünde das Land gegenwärtig bei Kilometer 500. In einem solchen Land sind die Armen gewöhnlich eine unbequeme und stete Mahnung daran, was man hinter sich lassen möchte, doch im Rückspiegel des Wagens präsent bleibt und uns jedes Mal daran erinnert, was für ein langer und mühseliger Weg noch vor uns liegt. Im Jahr 2003 befiel die thailändische Regierung vor dem |61| Gipfel der Asian-Pacific Economic Cooperation (APEC, einem der vielen nutzlosen politischen Treffen, mit denen die Politiker ihre Bezüge rechtfertigen und die Journalisten unbedingt ihre Zeit verlieren wollen) der Wunsch, Bangkok zu verschönern. Man wollte nicht, dass die Gäste auf der Fahrt durch die Stadt in ihren BMW-Limousinen den Reflex der Armut sähen. So wurden zirka 10 000 Obdachlose in Militärlager gesteckt und die kambodschanischen Bettler mit einer Hercules C-130 außer Landes geflogen. Das größte Armenviertel der Stadt versteckte man hinter einer riesigen Mauer von vier Stockwerken Höhe und einem halben Kilometer Länge, auf der ein Bild des Königspalastes prangte. Es war wohl mehr als nur der großen Verehrung für den König zu verdanken, dass die Bewohner des Viertels diese irreale Kulissenwand nicht niederbrannten, die so perfekt aufgestellt war, dass sie die Realität der Slumbewohner vor aller Welt verhüllte – außer vor ihnen selbst. Die Bewohner dieses Viertels waren so sehr daran gewöhnt, ignoriert zu werden, dass sie sowieso angenommen hatten, für den Rest der Gesellschaft Luft zu sein.
Das Thaiboxen ist, wie Fußball in Brasilien oder Cricket in Indien, eine der wenigen Aufstiegsmöglichkeiten für diejenigen, die nicht mehr unsichtbar sein wollen, all jene, die auf der Kristallbrücke, die zu den Träumen führt, ans andere Ufer gelangen wollen, ohne dass sie zerbricht. Alle Boxer, die in Bangkok ankommen, träumen davon, die andere Seite zu erreichen. Vor einigen Jahren habe ich Parinya Charoenphol, bekannt als Nong Tum, kennen gelernt, einen der großen Landesmeister im Thaiboxen, dessen Leben von dem Regisseur Ekachai Uekrongtham verfilmt wurde. Parinyas träumte von Kindesbeinen an, eine Frau zu sein. Jahrelang kämpfte er wie ein Mann, um sich in eine Frau zu verwandeln, und dank der Siegprämien wurde die Verwandlung mit jedem Kampf offensichtlicher. Seine Gesten wurden immer femininer, er begann sich zu schminken, und mit seiner Weiblichkeit machte er die Niederlagen für seine Gegner noch erniedrigender. Jeder Sieg beschleunigte den Prozess: längere Haare, immer enger geschnittenere |62| Shorts, Büstenhalter, feminines Parfüm und schließlich die Weigerung, sich beim traditionellen Wiegen vor dem Kampf auszuziehen. »Als ich schließlich das Geld für die Operation beisammen hatte, die ich mir wünschte«, sagte sie mir, »machte das Boxen keinen Sinn mehr. Ich hatte mir meinen Traum erfüllt.«
Die Träume der Boxer im Boxstall von Sangmorakot sind schlichter. Ein Haus für die Eltern, ein besseres Leben, nicht mehr von oben herab gemustert zu werden in einem Land, das von so starken sozialen Unterschieden geprägt ist. Dazugehören. Sogar in Thailand, das trotz seiner immer wieder schwankenden Demokratie und sonstigen Mängel die Lethargie der Armut abgeschüttelt hat und heute vielen seiner Bürger größere Möglichkeiten eröffnet, bietet das Boxen häufig die einzige Chance zum Aufstieg in die Elite. Oder besser gesagt: zum Ausstieg aus der Klasse der Rettungslosen, denn von der sozialen Elite werden solche Aufsteiger vielleicht gelegentlich nach Hause eingeladen und wie Maskottchen den Freunden vorgezeigt, doch nie als gleichwertig akzeptiert. Sie dürfen auf die Hochzeiten der höheren Töchter gehen, aber sie können sich sicher sein, dass sie keine von ihnen heiraten werden. Fragt man die Jungs von Sangmorakot nach ihren Träumen, sprechen sie immer zuerst von Ruhm und Geld, einem Sportwagen und einem Haus, doch wenn sie dann weiter beschreiben, was sie wirklich wollen, kommt nach und nach heraus, was sie jedes Mal suchen, wenn sie in den Ring steigen: Sie wollen aufhören, unsichtbar zu sein.
*
Der Unbesiegbare von Sangmorakot wartet mit gesenktem Kopf in einer Ecke, bis er an der Reihe ist. Nach wie vor hat er diesen immer wachsamen und ängstlichen Blick, wie an dem Tag, als ich ihn kennen lernte. Sein Gegner hat sich zu ihm gesellt, springt in die Luft und schlägt Löcher in die Luft. Er ist der Tiger von Supanburi und
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