Kinder des Monsuns
salzigen Meeresbrise, seine Familie nachgeholt. Sie waren zurück an einem Ort, über den noch Piraten herrschen, weit weg von einem Manila, das sie nie zu sich eingeladen hatte. Ich stelle mir vor, wie er den Aufbruch wagte: »Fe, wir gehen«, hätte er seiner Frau verkündet. »Lieber kehre ich mit leeren Händen nach Hause zurück, als die Demütigung zu ertragen, meine Kinder in den Abfällen der anderen aufwachsen zu sehen.«
Das Müllmatterhorn steht noch am selben Ort, wo ich es zurückließ. Zu seinen Füßen stoße ich auf einen Bewohner, der die letzten Jahre damit verbracht hat, eine Liste von Verschwundenen zu erstellen und von Haus zu Haus nach ihnen zu fragen. Fehlt Ihnen ein Kind? Haben sie einen Ehemann, Bruder oder Cousin verloren?
»Es sind mindestens Tausend«, verrät er mir und weist die offizielle Opferzahl von 219 von der Hand. »Die wollen uns für reichlich dumm verkaufen. Als ob wir nicht wissen, ob wir ein oder drei Kinder verloren haben. Sie liegen noch hier, unter dem Müll.«
Die Abfälle werden nun gestufter aufgeschüttet, damit die Halden nicht zu hoch werden und der Monsunregen nicht ein neues Unglück anrichten kann. Einige Familien, die am meisten von |99| einer neuerlichen Mülllawine bedroht waren, wurden zu einem Ort in der Nähe von Montalban umgesiedelt. Das Müllmatterhorn bleibt eindrucksvoll. Da es kürzlich nicht geregnet hat, lässt es sich leicht besteigen, und von oben hat man den Eindruck, dass die Zeit stehen geblieben ist. Die Stadt in der Ferne bleibt so nah und so fern wie eh und je, ein anderer Planet. Die Müllwagen kommen herangefahren, die Menschen hier warten auf sie.
Ich schaue mich um und könnte von vorn anfangen, mir einen der Jungen aussuchen, die im Abfall wühlen, und seine Geschichte erzählen. Er würde um vier Uhr morgens aufstehen, versuchen, den Sack voll zu bekommen, würde davon träumen, einen dieser Lastwagen zu lenken und mit leerem Magen einschlafen. Es ist nicht die Armut, die einige Orte so besonders ungerecht macht, sondern die unerträgliche Lethargie der Armut, ihre unerschütterliche Ruhe, die Gewissheit derer, die sie erleiden, dass sich nichts ändern kann und ändern wird: So sehr du dich auch abstrampelst, immerzu nur treibst du weiter auf einem Ozean unendlicher Verzweiflung dahin. Es ist nicht die Armut, sondern die Ruhe.
Ich erkenne Reneboy nicht unter den Kindern um mich herum. Ich versuche, mich an den Weg zu erinnern, den er mich zu seiner Hütte führte, als wir uns kennen lernten. Ich steige den Hang hinunter, und zu Füßen des Müllmatterhorns, unbedeutend vor der Unermesslichkeit des Berges, entdecke ich die kleine Baracke der Familie Chale, dieselbe, die dank eines an einen Pfandleiher verkauften goldenen Ohrrings mit einem zementierten Eingang versehen ist. Es ist niemand da. Ich frage die Nachbarn und erfahre von einer Frau, dass die Familie umgezogen ist, jedoch nicht so weit weg, wie ich es mir ausgemalt hatte. Sie führt mich die Hauptstraße entlang, wir überqueren den Markt mit den Fischen und den Fliegen und lassen die Kirche und die Plakate mit lächelnden Politikern, die große Veränderungen versprechen, hinter uns. Am Ende der Straße gibt es eine Steigung, die auf eine Anhöhe führt, und dort oben steht im Dickicht eine große Hütte.
»Sie wohnt hier«, sagt die Frau.
|100| Ein Junge mit brauner Haut und schiefen Ohren öffnet mir. Er hält schweigend inne und sagt dann mit einem Lächeln: »Der Ausländer.« Es sind fünf Jahre vergangen, doch Reneboy ist kaum mehr als eine Handbreit gewachsen. Sein Körper bleibt der eines Jungen, nun jedoch in der Haut eines Jugendlichen von 15 Jahren. Fe sitzt am Feuer und kocht Reis. Die letzten Jahre seit der Tragödie waren hart, sagt sie, doch Reneboy hat gut gearbeitet, seine kleine Schwester hilft ihm, und die Großen sind entweder verheiratet oder so weit wie möglich von diesem Ort fortgegangen. Ab und zu schicken sie einen Umschlag mit etwas Geld, und dank dieser Zuwendungen hat die Familie nun eine neue Hütte etwas weiter vom Unrat entfernt mit Blick auf den großen Berg, alle Wände sind gemauert und das Dach ist aus Wellblech. Es gibt Ratten, aber weniger als früher. Das Gelobte Land sieht immer mehr danach aus… in der Dunkelheit der Nacht.
Reneboy erzählt, dass er kein Müllfahrer mehr werden möchte, der seine Ankunft mit der Hupe ankündigt und allen neue Schätze bringt. »Wenn ich 17 bin, melde ich mich zur Armee und gehe für immer
Weitere Kostenlose Bücher