Kinder des Monsuns
weiter, im Gepäck die Angst, die einen in Afghanistan immer begleitet. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als die Schwächsten und Verwundeten auf dem Weg zurückzulassen. Sie verbargen sich in der Nacht und setzten ihre Reise am Tag fort, bis sie die Grenze in der Nähe des Khaiberpasses erreichten. Die Flüchtlinge warteten, bis es Nacht wurde, und überquerten die Grenze. Eine Hilfsorganisation nahm sich ihrer an, gab ihnen zu essen, etwas saubere Wäsche und diese Hütte zum Schlafen.
»Gibt es hier Taliban?«, war Mariams erste Frage, als sie in Pakistan ankamen.
»Nein, die gibt es nicht«, versicherte man ihr.
|152| Und zum ersten Mal, seit sie sich erinnern kann, verschwand die Angst. Nicht länger in Gefahr, erzählt mir Mariam die Geschichte eines Dorfes im Bamiyan-Tal, wo es mehr Bomben regnet als Wasser, wo man als Mädchen nicht zur Schule gehen darf und Versteckspielen nie ein Spiel ist. Sie erzählt mir, wie sie am ganzen Körper zitterte, als die Taliban in ihr Haus kamen und nach den Männern fragten, und wie glücklich sie ist, dass ihr Vater zu alt war, um erschossen zu werden, aber noch jung genug, um es mit ihr und ihrer Mutter zur Grenze zu schaffen.
Einige Tage vor meinem Besuch im Flüchtlingslager habe ich eine UNICEF-Studie zur psychischen Verfassung der Kinder in Afghanistan gelesen. Teil der Untersuchung war eine vierjährige Erhebung, deren Ergebnisse kaum zu glauben sind, selbst in einem so geschundenen Land. Die Hälfte der befragten Kinder gab an, schon einmal gesehen zu haben, wie jemand durch eine Bombe, Mine oder Schussverletzung starb. Zwei Drittel haben ein Familienmitglied verloren, und sieben von zehn haben verstümmelte Leichen gesehen oder Menschen, die um Hilfe bettelten.
Hat Mariam gesehen, wie jemand durch eine Bombe, Mine oder Schusswaffe gestorben ist?
Sie nickt.
Hat sie gehört, wie jemand um Hilfe gerufen hat?
Sie nickt.
Wurde jemand aus ihrer Familie getötet?
»Meine drei Cousins lagen im Schnee«, antwortet sie und erinnert sich an den Tag zurück, als sie dabei half, sie vom Schnee zu befreien. »Wir konnten sie nicht vom Eis lösen. Alle suchten ihre Kinder und weinten. Sie waren alle tot.«
Mariam fragt sich manchmal, ob es nicht besser wäre, tot zu sein. Ohne Hoffnung, mit einer Zukunft vor Augen, die sie an ihren Müttern ablesen können, die von den Tugendwächtern öffentlich ausgepeitscht werden, nehmen sich viele afghanische Mädchen das Leben. Weil es meist, wie im Tal der Buddhas, keine hohen Gebäude gibt, von denen man sich stürzen kann, steigen sie auf |153| einen Berg und springen in die Tiefe. Oder sie nehmen Rattengift. Dann bestrafen die Taliban die Eltern dafür, dass sie ihre Töchter nicht davon abgehalten haben, gegen den Islam zu verstoßen, ausgerechnet sie, die den Mädchen in der Hölle, in die sie Afghanistan verwandelt haben, einen besonders üblen Platz reserviert haben. »Wenn ich wieder in den Krieg zurückkehren muss, will ich lieber sterben«, sagt Mariam (laut UNICEF-Studie glauben neun von zehn Kindern, dass das Leben nicht der Mühe lohnt).
Die Geschichte über Mariam und die Wirkung des Kriegs auf die afghanischen Kinder ist die letzte, die ich schreibe, bevor ich die Zeitung anrufe, um darum zu bitten, mich als Kriegsreporter abzulösen. Ich brauche Erholung von einem Krieg, über den ich aus zu großer Entfernung berichte, und von einem Beruf, den ich von zu nah erlebe. Im Krieg gibt es zwischen Soldaten und Politikern, Panzern und Jagdbombern, Schlachtfeldern und Kasernen immer eine Mehrheit von Menschen, deren Stimme durch den Schlachtenlärm übertönt wird. Ich war mit der Vorstellung angereist, sie ihnen zurückzugeben. Nach Wochen vergeblicher Versuche erdrückt mich meine Ohnmacht.
Julio Fuentes in Madrid frohlockt über die Nachricht, dass er mich ersetzen soll. Einige Tage darauf trifft er mit strahlenden Augen und kindlicher Vorfreude in Islamabad ein, er, der an mehr Kriegen teilgenommen hat als ein Fünfsternegeneral und Schrecken auf Schrecken gehäuft hat wie Steine in einen Rucksack, der von Mal zu Mal schwerer zu tragen ist. Beim Frühstück im Marriott gebe ich ihm einen Lagebericht, und wir kommen auf die Kriegsberichterstattung zu sprechen, die, sagt er, nicht immer so war. »Die Medien haben sich verkauft, heute zählt nur das Geld. Die Regierungen und die Armeen unternehmen alles, um uns auszuschalten, häufig mit Erfolg. Menschen zählen für die nicht.«
Ich verabschiede mich von Julio und
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