Kinder des Monsuns
einem Bus geholt und verstümmelt – man schnitt ihnen Ohren und Nasen ab –, weil ihre Bärte nicht lang genug waren. Vor einigen Tagen tauchte ein polnischer Journalist in der Lobby des Intercontinental in Unterhosen auf, nachdem er dort überfallen worden war.
Farhad, mein Fahrer, macht mir Mut. Er hat die Fahrt schon viele Male gemacht, sagt er, und kenne den Trick, die Strecke zu schaffen, ohne massakriert zu werden. Er verrät mir sein Geheimnis: »Niemals anhalten. Was immer passiert, und wenn ich einen überfahren muss: Ich gebe Gas. Ich nehme nie den Fuß vom Gas.«
»Ja, was immer passiert«, wiederhole ich wie zur magischen Bestärkung seiner Entschlossenheit.
Die Piste aus Sand und Steinen ist mit Schlaglöchern übersät und für einen Hinterhalt wie geschaffen. Kaum hat man die Hauptstadt verlassen, rücken die Felsen immer dichter an die Straße heran, sodass die Reisenden zwischen dem Fluss zur Linken und der Felswand zur Rechten in der Falle sitzen. Der vorausfahrende Wagen verschwindet völlig in der Staubwolke, die er hinter sich herzieht. An vielen Stellen können Autos nicht schneller als zehn oder 15 Kilometer in der Stunde fahren, und der einzige Laden, dem wir begegnen, ist ein fliegender Händler, der am Straßenrand AK-47-Gewehre verkauft. Ringsum sieht man kein Leben: Die Berge sind kahl, und fast niemand lebt in den vom Krieg halbzerstörten |159| Dörfern, wo nur noch einige Hütten stehen. »Nie anhalten«, sagt Farhad zu sich selbst alle paar Kilometer und tritt aufs Pedal, bis wir sieben Stunden und 147 Kilometer später in Dschalalabad ankommen.
Wir mieten uns mit dem Sonderkorrespondenten Ricardo Ortega vom spanischen Fernsehsender Antena 3 das Haus eines örtlichen Kommandanten. Keine schlechte Behausung, mag es auch das eine oder andere zu beanstanden geben, wie es in einem Land zu erwarten ist, wo auf jeden Telefonanschluss Hunderte von Waffen kommen und sich die unter 30-Jährigen an keinen einzigen Tag ohne Krieg erinnern können. Morgens weckt uns einer der Männer des Kommandanten. Er hämmert an die Tür, baut sich, sobald wir öffnen, mit einer AK-47 vor uns auf und spuckt das einzige englische Wort aus, das er gelernt hat: »Money!« Dann hält er die Hand auf, und wir legen ein Bündel Dollarnoten hinein.
»So schnell verdrückt sich hier keiner, ohne zu bezahlen …«, scherzt Ricardo. Auch er sollte drei Jahre später auf den Straßen von Haiti bei der Arbeit ums Leben kommen. Die letzte Kugel des Kriegs ist fast immer für einen Journalisten reserviert. Ob für einen ahnungslosen Neuling, wie manche meinen, oder für den alten Hasen, der glaubt, schon alles zu kennen, ist ungewiss. In jedem Fall aber ist diese Kugel für den reserviert, der das Pech hat – und der so mutig war –, am richtigen Ort zur falschen Zeit zu sein. Manchmal trifft es die Besten.
Jeden Morgen, nachdem wir ohne einen Mucks bezahlt haben, nehmen wir ein Taxi zum Krieg. Wir fahren aus Dschalalabad heraus und gelangen in weniger als zwei Stunden ins Tora-Bora-Gebirge. Der letzte Teil der Reise geht über schwindelerregend schmale Straßen voller Schlaglöcher, auf denen ein falscher Schlenker ausreicht, um in die Tiefe zu stürzen. Unseren Fahrer, Abdul, scheint das nicht zu bekümmern. Als führe er auf einer deutschen Autobahn, rast er mit Höchstgeschwindigkeit bergauf und kommt in jeder Kurve ins Schleudern, während die Musik seines Radiorekorders mit maximaler Lautstärke aus den Boxen |160| plärrt. Jeden Tag überlege ich, die verfluchte Musik auszuschalten, damit sich Abdul auf die Straße konzentrieren kann, doch dann fallen mir die fünf Jahre ein, in denen sich die Afghanen dumme Befehle darüber anhören mussten, was man darf und nicht darf, und ich verkneife es mir. Bei solchen Fahrten über höllische Straßen mit Draufgängern wie Abdul habe ich immer die größten Qualen ausgestanden. Sobald wir im Tora-Bora-Gebirge angelangt sind, überkommt mich völlige Entspannung, als wäre ich gerade aus einer Achterbahn gestiegen.
Auf einem von Journalisten besetzten Plateau gehen wir in Stellung und blicken auf die Berge, auf denen die Amerikaner ihren Feind Nummer eins suchen. Doch sie haben noch nichts von dem einheimischen Sprichwort gehört, dass man zwar einen Afghanen mieten, aber niemals kaufen kann. Sie haben örtliche Mudschaheddin, Männer, die nichts anderes als den Krieg kennen, dafür bezahlt, die Arbeit für sie zu erledigen und ihnen bin Laden auf dem Tablett zu
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