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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Jimenez
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ist, werde ich wohl bald Horoskope schreiben, fürchte ich, und dann bittet mich auf der anderen Seite der Sprechanlage auch noch ein Page, mich etwas zu gedulden und mir keine Sorgen zu machen. Jedes Mal, wenn ich in den letzten Wochen diesen Satz von einem Pakistaner gehört habe, verbrachte ich zwei Tage damit, Fotokopien anzufertigen und Beamte hinter Glasscheiben aufzuwecken, die ein Pöstchen ergattert hatten, nur um bei jedem Aufwachen erneut vor dem Beweis zu stehen, dass es stimmte: Nie wieder in ihrem Leben würden sie arbeiten müssen. Ich male mir schon meine neue Stelle als Horoskop-Redakteur aus – wer würde bei der Zeitung schon die Ausrede mit dem Fahrstuhl glauben? –, als der Page mit einer Brechstange in der Hand die Fahrstuhltür öffnet und seinen Kopf zu mir hineinsteckt, um zu fragen, ob bei mir alles in Ordnung ist. Meine Berichte von diesem Tag und den folgenden treffen rechtzeitig |150| in der Redaktion ein, doch aus irgendeinem Grund habe ich weiterhin das Gefühl, noch im Fahrstuhl festzustecken: Ich fühle mich ohnmächtig, weil ich nicht die Grenze überqueren und von der Front aus über den Krieg berichten kann.
    Wir nach Pakistan entsandten Journalisten pilgern jeden Tag zur afghanischen Botschaft, um eine Gruppe bärtiger Taliban zu überreden, uns ein verdammtes Visum für Afghanistan auszustellen, um dorthin fahren zu können, wo die Bomben fallen werden. Die Taliban organisieren surreale Pressekonferenzen im Garten der Botschaft und sprechen von Paradiesen und epischen Siegen, doch niemals von genehmigten Visaanträgen. Der Pulk von Journalisten in der Botschaft belegt, in welchem Maße auch wir dieses Land verraten haben. Früher hatten wir alles daran gesetzt, nach Afghanistan zu gelangen, doch nach dem Abzug der Russen ließen wir das Land im Stich und verzichteten darauf, aus unserer eigenen Sicht über den Bürgerkrieg zu berichten. Wir erinnerten uns an das afghanische Volk oder vergaßen es, je nach der Agenda der westlichen Regierungen, als deren bloße Sprachrohre wir oft agierten.
    Schon erinnert sich kaum noch jemand, und einigen ist es völlig neu, dass erst vor wenigen Monaten die Hasara von Bamiyan, darunter auch die Cousins von Mariam, massakriert wurden, ohne dass irgendeine Zeitung oder ein TV-Sender Platz oder Sendezeit gefunden hätte, ihre Tragödie zu schildern, und natürlich hatte es auch keine ausländische Regierung gekümmert. Lieber berichteten die Nachrichten einige Wochen später mit fetten Schlagzeilen vom Befehl des Führers der Gläubigen, die beiden gigantischen Buddhas von Bamiyan zu sprengen. Da war es plötzlich möglich: Zeitungen und Fernsehsender widmeten dem Thema wochenlang ihre Berichterstattung, in verschiedenen Städten fanden Demonstrationen gegen die Vernichtung der Monumente statt, der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan bat die Regierung in Kabul, die Statuen zu verschonen, und sogar die arabischen Diktaturen verurteilten diesen Angriff auf die religiöse Toleranz, wo sie sich doch sonst viel besser mit der Intoleranz auskannten.
    |151| Zu guter Letzt hatte sich auch die Heuchelei globalisiert.
    Selbst wenn man einräumt, dass auch für uns Journalisten ein Menschenleben nicht an allen Orten denselben Wert hat: Fiel etwa das Überleben eines wehrlosen Volkes weniger ins Gewicht als diese Statuen, so hoch ihr kultureller Wert auch sein mochte? Nun, wo wir mit unserem gewinnendsten Lächeln die Taliban um ein Visum anbetteln, um in ihr Land reisen zu dürfen, werde ich das Gefühl nicht los, dass wir zu spät kommen.
    Da es unmöglich ist, nach Kabul zu gelangen, ist der Besuch in den afghanischen Flüchtlingslagern in Pakistan Teil des Kampfs gegen die Verzweiflung geworden. Die Kriegsflüchtlinge sind mein einziger Kontakt zu den Geschehnissen in Afghanistan, und hier, in den Lagern an der Grenze, lerne ich Mariam kennen. Anfangs sehe ich nur ihre Augen hinter der halbgeöffneten Tür eines Lehmhauses, bevor sie mit ihrem Hidschab rasch ihr Gesicht verhüllt und verschwindet, als sie mich bemerkt. Ihr neues Heim ist eine Hütte mit winzigen Fenstern, durch die kaum Licht fällt, voller Frauen, die nach dem Massaker an den Männern von Yakaolang mit ihren Kindern nach Pakistan geflüchtet sind. Nun beweinen sie ihre zurückgelassenen Männer und erzählen sich gegenseitig ihr Unglück.
    Für Mariam war es ein endloser Marsch durch Schnee und Kälte, der Wochen dauerte. Ohne zurückzuschauen, wanderten die Überlebenden immer

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