Kinder des Monsuns
servieren. Doch der kennt seine Afghanen besser. Was die Amerikaner noch nicht ahnen: Er zahlt den Mudschaheddin ein bisschen mehr, damit sie wegschauen, und entkommt in einer der großen Fluchten der Weltgeschichte.
Alle Tage im Tora-Bora-Gebirge gleichen sich. Die Fernsehsender bauen ihre Stative und Kameras auf dem Plateau auf, das uns eine fantastische Aussicht auf die Berge und die Kampfhandlungen bietet. Fast können die Kameraleute ein Nickerchen bei der Arbeit machen, so leicht lässt sich hier das Geschehen einfangen. Vor uns ist alles wie im Kino: Alle paar Minuten kommt eine B- 52 , wirf ihre Bombenfracht präzise vor uns ab und verschwindet in der Ferne, während die Soldaten Allahs ohnmächtig in alle Richtungen feuern. Das Erste, was man sieht, ist die Staubwolke, die vom Aufprall der Bombe aufgewirbelt wird, dann, mit leichter Verzögerung, hört man den Donner der Detonation. In den Kampfpausen bleibt Zeit, um etwas zu sich zu nehmen, mit Freunden zu reden und mit dem Satellitentelefon zu Hause anzurufen. Ich bekomme einen Anruf von meiner Mutter.
|161| »Wie ist die Lage?«, fragt sie besorgt.
»Alles wunderbar, Mama, mach dir keine Sorgen…«
Bumm!
(eine Bombe explodiert).
»Und was war das?«
»Nichts, es donnert und sieht nach Regen aus. Alles läuft gut. Hör mal, ich rufe später zurück.«
Dieses Mal habe ich es also tatsächlich vor mir, das Spektakel des modernen Kriegs in all seiner Pracht und Hässlichkeit.
Als die Bomben auf den Bergen von Tora Bora schließlich schweigen, ist Osama bin Laden getürmt und träumt weiter davon, den Westen zu terrorisieren. Ein seltsames Gefühl des Friedens senkt sich über Afghanistan. Eine Zeitlang hört man keine Bombardierungen, es werden keine Dörfer abgebrannt und keine Unschuldigen erschossen, die alt genug aussehen, um eine Waffe zu tragen. Ich nehme dieselbe Route wie Mariam und die Frauen von Yakaolang bei ihrer Flucht aus Afghanistan und überquere auf dem Weg nach Hause den Khaiberpass hinüber nach Pakistan.
In den folgenden Monaten nehmen Hunderte von Lastwagen, mit Flüchtlingen beladen, den umgekehrten Weg. Sie haben jahrzehntelang auf das Ende des Kriegs gewartet und sehnen sich nach einem Afghanistan ohne Angst. Bevor ich nach Hause zurückkehre, besuche ich ein letztes Mal das Flüchtlingslager, wo ich Mariam kennen gelernt habe. Von einer alten Frau erfahre ich, dass auch sie mit ihrer Familie fortgegangen und nach Bamiyan zurückgekehrt ist. »Der Krieg ist aus!«, jubiliert sie. Sie weiß noch nicht, dass sich die Taliban darauf vorbereiten, erneut nach der Macht zu greifen, und in Kürze wieder Bomben auf Afghanistan regnen werden. Ist es ein neuer Krieg? Oder nur ein Teil ein und desselben endlosen Kriegs?
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|163| Kapitel 6
Yeshe – Tibets geraubte Zukunft
|165| W er er ein Land besetzt, das nicht das eigene ist, wer das Haus des Nachbarn betritt, ohne anzuklopfen, und die Würde seines Heimes verletzt, der muss, das lehrt die Geschichte, mit dem erbitterten Widerstand seiner Bewohner rechnen. So geschah es ein ums andere Mal in Afghanistan, dessen Volk geladene Gäste mit der größten Zuvorkommenheit empfängt, Invasoren aber Angst und Schrecken lehrt. Doch die Tibeter sind keine Afghanen. Ihre Kraft liegt nicht darin, einen Fausthieb mit einem anderen heimzuzahlen, sondern ihren Durst nach Vergeltung zu beherrschen. Noch heute, nach fünf Jahrzehnten der Ausplünderung und Repression, der Schändung ihrer Sitten und Inhaftierung ihrer Kinder, folgen die Tibeter in ihrem Kampf gegen die chinesische Okkupation ihres Landes dem Prinzip der Gewaltlosigkeit.
Seit meiner Ankunft in Asien brenne ich darauf, nach Tibet zu reisen. Das liegt zum großen Teil an der Faszination, die dieses Volk auf mich ausübt, dem es gelungen ist, den schlimmsten Instinkten seiner Feinde, aber vor allem auch seinen eigenen, zu widerstehen. Die Tibeter sind bereit, alles preiszugeben, außer die Prinzipien, die sie zu dem machen, was sie sind. Sie sind hartnäckig davon überzeugt, dass sie erst an dem Tag besiegt sein werden, an dem sie Gleiches mit Gleichem vergelten und zurückschlagen.
Bei meinem ersten Versuch, nach Tibet zu reisen, schlage ich den offiziellen Weg ein und beantragte eine Arbeitsgenehmigung |166| als Journalist. Doch Journalisten sind in Diktaturen selten wohlgelitten, umso weniger, wenn sie ein von dieser Diktatur besetztes und geknechtetes Land besuchen wollen. Es ist zudem eine heikle
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