Kinder des Monsuns
ausgemergelt in Lhasa eintraf, tat der Mönch in spe, wie ihm sein Vater aufgetragen hatte. Er wartete am Potala-Palast, und als er einen Mönch herannahen sah, ging er auf ihn zu, um sich vorzustellen und seinen Brief abzugeben. Der Mönch hieß Rinzen, und von diesem Augenblick an wurde er zu seinem Meister und Freund.
Damals war es bereits sehr schwierig, in ein Kloster aufgenommen zu werden. Von den über 100 000 Mönchen, die es 1949 gegeben hatte, waren nur noch wenige Tausend übrig geblieben, nachdem die chinesische Armee zirka 6 000 Klöster zerstört hatte, einige mit Schießübungen der Artillerie. Die chinesischen Funktionäre hatten pro Tempel eine Höchstzahl von Mönchen festgesetzt, und die Quote war im Potala-Palast, der aufgrund seiner symbolischen Bedeutung noch strenger kontrolliert wurde, bereits mehr als ausgeschöpft.
Rinzen beschloss, die Vorschriften außer Acht zu lassen und dem Jungen einen Platz in seiner Zelle herzurichten. In langen nächtlichen Gesprächen, die beide ins Gefängnis hätten bringen können, öffnete er dem Jungen die Augen über die Lage Tibets unter chinesischer Herrschaft. Die gefährliche Angewohnheit, auf den Gängen von Potala Touristen anzusprechen, lernte Yeshe von seinem Lehrer, der ihn auch lehrte, vor den chinesischen Soldaten immer Würde zu bewahren und die tibetische Kultur zu erhalten. An dem Tag, als sie Rinzen abholten, verstand Yeshe besser denn je, |171| was sein Mentor ihm so viele Male eingeschärft hatte: dass Tibet im Begriff stand, den Kampf um sein Überleben zu verlieren.
»Er war wie ein zweiter Vater für mich«, erzählt Yeshe, noch immer unter dem starken Eindruck seines jüngsten Besuchs in der Gefängniszelle seines Freundes Rinzen. »Immer sprach er vor den Touristen schlecht über die Chinesen. Er wurde wegen ›Bedrohung der Staatssicherheit‹ zu zehn Jahren Haft verurteilt. Durch die Schläge der Gefängniswärter hat er ein Auge verloren und kann kaum gehen. Er ist sehr krank. Sie haben viele wie ihn mitgenommen.«
Wenige Tage vor meinem Eintreffen in Lhasa waren die Soldaten auch in die Zelle von Yeshe gekommen, um seine Sachen zu durchsuchen. Der Besitz von Bildern des Dalai-Lama steht ebenfalls unter Strafe, aber die Durchsetzung des Verbots schwankt: Je nachdem, ob heikle Gedenktage bevorstehen und abhängig von der Stimmung des gerade zuständigen Funktionärs des Amts für Öffentliche Sicherheit wird es mal strenger und mal lascher gehandhabt. Die Reaktion der Soldaten ist unvorhersehbar. Es war schon Nacht, als ein Beamter in Begleitung zweier Soldaten Yeshes schäbige Zelle betrat und ihn mit einem Fußtritt in die Seite weckte.
»Weißt du nicht, dass es verboten ist, Fotos von separatistischen Elementen zu besitzen?«, fragte einer der Soldaten. »Nimm sofort diese Fotos ab.«
»Das kann ich nicht tun«, erwiderte Yeshe, wobei er sich bemühte, nicht herausfordernd zu klingen.
»Was, zum Teufel, fällt diesen Leuten ein«, fluchte der Beamte aufgebracht. »Er ist nur ein Mensch, ein Mensch, mehr nicht! Warum, zum Teufel, siehst du nicht, dass es nur ein Mensch ist? Antworte! Nimm diese Fotos ab, oder du kommst in Arrest.«
»Das kann ich nicht tun«, beharrte Yeshe.
Die beiden Soldaten machten sich daran, die Porträts des Dalai-Lama von der Wand zu reißen, bis keines mehr übrig blieb. Als sie fort waren, holte Yeshe den Packen Fotos vom Dalai-Lama hervor |172| , den er in seiner Truhe verwahrte und mit Zukäufen auf dem Schwarzmarkt von Lhasa vergrößerte, wann immer er etwas Geld hatte. Er wusste, dass sie wiederkommen würden, um auch diese zu holen, doch er würde sie tausendfach wieder aufhängen, wenn es nötig war. »Andere haben Angst, ich nicht«, sagt er, wie schon bei unserer ersten Begegnung auf dem Weg zum Potala-Palast. Jetzt, wo ich ihn näher kenne, fürchte ich, dass es stimmt.
Nur schwer können die chinesischen Funktionäre verstehen, dass die Tibeter nach einem halben Jahrhundert Besatzung den Dalai-Lama mit derselben Inbrunst verehren wie ehedem. Sie haben alles versucht, um diesen beunruhigenden Glauben an ihren lebenden Buddha zu brechen, doch sie sind mit allem gescheitert: Repression, Bestechung, sogar mit der wirtschaftlichen Entwicklung, die dem Land fehlte. Denn das Tibet vor der Besetzung durch die Chinesen war nie das Shangri-La, das der Westen in seinen Träumen vom »verlorenen Horizont« verklärt hatte. * Krankheiten dezimierten die Bevölkerung, die Infrastruktur war kaum
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