Kinder des Monsuns
Zeit, weil sich bald die Erhebung der Tibeter gegen die chinesische Besetzung, die darauf folgenden Repressionen durch chinesische Soldaten und die Flucht des Dalai-Lama nach Indien zum 40. Mal jähren. Wenn ich noch rechtzeitig zum Jahrestag eine Reportage schreiben will, bleibt mir nur die Möglichkeit, in die chinesische Stadt Chengdu zu fliegen und mich dort einer der Touristengruppen anzuschließen, die Einreisegenehmigungen für Tibet erhalten.
Nach Erledigung der Formalitäten mache ich mich im Februar 1999 in Begleitung von etwa zwanzig Europäern und Asiaten nach Lhasa auf. Ein Fremdenführer der chinesischen Regierung gängelt uns wie eine Schafherde und wiederholt ständig ungefragt, dass wir zu einem Ort der Glückseligkeit fahren, wo dank der Kommunistischen Partei »alles großartig« sei. Das Regime hat begonnen, Tibet mit ignoranten Fremdenführern zu überziehen, die nie in der Region waren und die örtliche Kultur und Geschichte nicht kennen, aber wie Papageien die offizielle Propaganda nachbeten. Dadurch haben die Tibeter einige der wenigen Arbeitsplätze verloren, die ihnen geblieben waren. Der Rest, vom Kellner bis zum Gepäckträger, bleibt ihnen verwehrt, weil die zwingende Voraussetzung dafür die mündliche und schriftliche Beherrschung des Chinesischen ist. So wird sichergestellt, dass die Arbeitsplätze bevorzugt an Hanchinesen vergeben werden, die zuhauf in Tibet einfallen.
Wir werden im Holiday Inn in der tibetischen Hauptstadt untergebracht. Die amerikanische Hotelkette hat 1986 einen Vertrag mit dem kommunistischen Regime zum Betrieb von Hotels auf chinesischem Territorium geschlossen. Im Nachtschränkchen finde ich eine Broschüre, die Tibet als eine »magische Welt« beschreibt, »wo die Einheimischen mit Stolz von ihrer Vergangenheit sprechen«. Das Prospekt erwähnt nicht die vielen Tibeter, die im Gefängnis |167| sitzen, weil sie mit Stolz von ihrer Vergangenheit sprachen, doch über dergleichen machen sich auch westliche Unternehmer gewöhnlich keine allzu großen Gedanken. Tibet hat sich dem Tourismus geöffnet, und es wäre geschmacklos, den frisch in Lhasa eingetroffenen Besuchern zu erzählen, dass ein Teil der einheimischen Bevölkerung nicht weit von hier in Kerkern schmachtet.
Im Hotel bekommen wir einen Stadtplan, man hängt uns ein Schildchen mit unserem Namen um und schenkt uns ein gelbes Käppi, das wir ständig tragen müssen, damit wir gut sichtbar als Touristen zu identifizieren sind. Neben mir reist eine Dame aus Hongkong, die unter der Höhe leidet und sich einen Schlauch unter die Nase hält, um sich eine Extradosis Sauerstoff zu verschaffen, ein Apparat, von dem sie sich nur löst, um gegen irgendeinen Aspekt der Reise zu wettern. »Ich habe ein Vermögen bezahlt, und da gibt es so etwas zu essen?«; »Haben Sie gesehen, wie schmutzig der Teppich des Hotels ist?«; »Das ist unerträglich!«
Für den folgenden Tag zitiert uns der Fremdenführer um sieben Uhr morgens in die Lobby, um zu frühstücken, bevor wir einige der »großen Modernisierungsfortschritte« bestaunen dürfen, die »in Tibet dank der Partei erreicht wurden«. Ich stelle meinen Wecker eine Stunde früher und entwische durch die Vordertür des Hotels, nachdem ich an der Rezeption eine Nachricht hinterlassen habe: »Tut mir leid, ich glaube, ich vertrage die Höhe nicht. Ich fliege mit dem ersten Flug nach Hause. Vielen Dank für alles.«
Mein erstes Ziel ist der Potala-Palast, der sich 3 700 Meter über dem Meeresspiegel auf dem Hongshan, dem Roten Berg, im Zentrum von Lhasa erhebt. Von hier oben aus erscheint die Stadt in ihrer ganzen makellosen Pracht, auch deshalb, weil ihre Wunden aus der Entfernung verhüllt bleiben. Selbst die schmeichlerischsten Touristikbroschüren des Holiday Inn könnten ihre Schönheit nicht übertreiben.
Ich laufe auf einem der Wege im Dämmerlicht auf den Palast zu, als sich jemand von hinten nähert und mir aufrührerische Worte zuflüstert. »Spenden Sie in den Tempeln kein Geld. Es wird |168| zwar behauptet, dass damit die Gebäude restauriert werden, aber die chinesischen Funktionäre sacken alles ein.« Ich beachte die Stimme nicht, überzeugt, dass es sich um einen anderen Touristen handelt, und gehe weiter, als dieselbe Stimme beinahe unhörbar erneut das Wort an mich richtet. »Wissen Sie, die Situation in Tibet ist sehr schlecht. Der Tempel steckt voller Mikrofone und Videokameras, angeblich wegen der Diebe, aber in Wirklichkeit, um uns zu
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