Kinder des Monsuns
überwachen.« Ich drehe mich um und erblicke einen kleinen Mönch mit kindlichen Zügen, üppigen roten Pausbacken, einem glänzenden, zweifellos erst vor kurzem rasierten Kopf und dem offenen Lächeln einer Zeichentrickfigur. Er ist noch ein Junge.
»Wenn das so ist, werden sie hören, was du mir erzählst«, antworte ich ihm, ohne zu bemerken, dass auch ich nun flüstere.
»Vielleicht, aber ich habe keine Angst«, erwidert der kleine Mönch. »Andere haben Angst, ich nicht.«
Yeshe bietet mir an, mir die Bereiche des Palastes zu zeigen, die der Öffentlichkeit verschlossen sind, und lädt mich danach zum Tee ein. Seine Zelle befindet sich unter dem Dach eines der Klostertürme in einem Flügel, der verlassen erscheint. Das steinerne Dach hat große Scharten, und der kleine Mönch hat sich daran gewöhnt, den Raum mit allerlei Vögeln zu teilen, die nun aufgestört auf der Suche nach einem Fluchtweg umherflattern. Die Buddha geopferten Geldgaben scheinen wirklich nicht für Renovierungen verwendet zu werden, zumindest nicht der Mönchszellen. Im Raum befinden sich ein Bett, ein alter Teppich, eine Truhe, ein Teekessel und eine Gebetsecke. Ein paar Ratten laufen herum, doch natürlich gibt es in einem buddhistischen Kloster nicht viel, was man gegen sie unternehmen könnte, ohne die Regel zu verletzen, kein Lebewesen zu töten, so unsympathisch es auch sei. »Sie stören mich nicht, und ich störe sie nicht«, versichert Yeshe.
Die Wände der Zelle sind mit Bildern des Dalai-Lama tapeziert. Darunter sind große und kleine, schwarzweiße, farbige und vergilbte. Es gibt Dalai-Lamas als Knabe, als Heranwachsender, als junger Mann und als Erwachsener, alles durcheinandergewürfelt |169| zu einer großen, bunten Collage, die an das Zimmer eines Jugendlichen erinnert, der Fotos seiner Lieblingsfußballer ausschneidet und an die Wand hängt. In der Nähe der Zelle befinden sich einige Meter entfernt im letzten Geschoss des weißen Palastes die alten Räume des Dalai-Lama, so, wie er sie zurückgelassen hat an jenem Tag vor vier Jahrzehnten, als er fortging. Yeshe sagt, dass er ihn sich vorstellen kann, wie er sich nachts dort drinnen schweigend unterweist, und sich ihm dann näher fühlt. »Ich glaube, dass er nicht weit ist, und das gibt mir Kraft.«
Yeshe war gerade 14 geworden, als ihn seine Familie nach Lhasa schickte. Es ist normal, dass tibetische Familien zumindest einen ihrer Söhne ins Kloster schicken möchten, ob im tibetischen Exil in Dharamsala oder irgendeinem Teil des besetzten Tibets. Norbu, Yeshes Vater, entschied sich für die tibetische Hauptstadt, weil er sich der baldigen Rückkehr des Dalai-Lama sicher war und wünschte, dass Yeshe seine Ankunft im Potala-Palast erwartete. »Wenn er zurückkehrt, kannst du ihm dienen«, stellte ihm sein Vater in Aussicht.
Norbu bot einer Gruppe von Pilgern, die auf dem Weg in die Hauptstadt waren, eine Ziege an, damit sie Yeshe mitnähmen. Sein Sohn, so dachte er, ist zu etwas Höherem bestimmt als zum Viehhüten. Mit Hilfe des einzigen Nachbarn, der schreiben konnte, verfasste Norbu einen Brief, worin er erklärte, was für ein guter, fleißiger und wissbegieriger Junge Yeshe war; nun sei für ihn die Stunde gekommen, »den Pfad der Erleuchtung zu suchen«. Yeshe sollte das Empfehlungsschreiben dem ersten Mönch überreichen, den er vor den Toren des Potala-Palastes sah. Wenn dieser ein gutes Herz hatte, würde er bei den chinesischen Behörden die Erlaubnis beantragen und Yeshe zum Eintritt in den Palast verhelfen.
Wenn der kleine Mönch an den Tag seiner Abreise aus dem elterlichen Dorf in der Nähe von Qamdo im äußersten Osten Tibets zurückdenkt, empfindet er keine Traurigkeit. Die Nachbarn kamen, um ihn hochleben zu lassen, füllten seine Taschen mit Speisen und verabschiedeten sich von dem Knaben, der sich aufmachte |170| , um dem Verteidiger des Glaubens zu begegnen. Alle beteuerten, dass sie ihn beneideten. In diesem Augenblick hätten viele alles darum gegeben, an seiner Stelle zu sein. Seine Mutter weinte, jedoch vor Freude. Seine drei Brüder beneideten ihn, doch ohne Missgunst. Seine Freunde waren stolz auf ihn.
Die Reise war eine lange Odyssee zu Fuß. Mehrere Monate dauerte der Marsch, und Yeshe dachte oft, er würde nie nach Lhasa kommen oder den Dalai-Lama sehen. Die Verpflegung, die man ihm mitgegeben hatte, war bald aufgezehrt, und während eines Großteils der Reise musste die Gruppe von Almosen leben. Als er schließlich verwahrlost und
Weitere Kostenlose Bücher