Kinder des Monsuns
ausgebaut, nur wenige konnten lesen und schreiben, und das politische System mit einigen wenigen Grundherren, die die Mehrheit der Bevölkerung ausbeuteten, war feudalistisch und alles andere als die gerechte und mitfühlende Herrschaft, die man sich von einem buddhistischen Reich erwartet hätte.
Das kommunistische China hat Straßen gebaut, Schulen, Krankenhäuser, Elektrizitätswerke und sogar Flughäfen. Die Diktatoren in Peking verstehen nicht, dass die Tibeter ihr Angebot eines bequemeren und moderneren Lebens nicht annehmen, nachdem sie das Volk »von der Dunkelheit ins Licht« geholt haben, wie es in der offiziellen Propaganda heißt. Wie können sie eine Schotterpiste einer Autobahn vorziehen? Wie das Dämmerlicht der Straßenbeleuchtung? Das Gestern dem Morgen? Im Gegenzug haben sie ihnen die Freiheit genommen und ihre Spiritualität nach Kräften |173| untergraben, wohl wahr, aber, so fragen sich die Funktionäre: Ist das nicht ein gerechter Preis im Tausch gegen die neue Zeit? Das chinesische Regime versteht nicht, dass die Tibeter es gerade deshalb hassen, weil es ihre Spiritualität jeden Tag aufs Neue auf die Probe stellt, weil es ihnen vor Augen geführt hat, was der Mangel an Mitgefühl bei Menschen anrichten kann, und weil es sie in Versuchung geführt hat, und sei es nur für Augenblicke, Gleiches mit Gleichem zu vergelten und den Schlag zu erwidern. Es geht die Geschichte, dass Mao Zedong nach den ersten Jahren der Repression und Umerziehung der tibetischen Massen einen seiner Funktionäre fragte, wie die Dinge dort oben stünden. »Sie lieben ihn noch immer«, erwiderte dieser mit Bezug auf den Dalai-Lama. »Sie lieben ihn noch immer.«
*
Yeshe ist der Fremdenführer, den ich mir für meine Tibetreise gewünscht hatte. Nach ein paar Tagen in der Hauptstadt besuchen wir einen alten Freund von ihm, gewinnen ihn als Fahrer und verlassen Lhasa. Ich bitte ihn, uns weit weg von den Touristen und Soldaten zu bringen. »Den ersten Wunsch kann ich erfüllen«, antwortet er, »aber was die Soldaten angeht, die sind überall.« Beim Verlassen der Stadt begegnen uns Pilger, die in die heilige Stadt ziehen. Sie sind in Lumpen gekleidet, ihr Gesicht ist mit Staub bedeckt. Alle paar Meter werfen sie sich zu Boden, strecken alle viere von sich und stehen wieder auf. Auf diese langsame und beschwerliche Weise nähern sie sich dem Tempel von Jokhang.
Es gibt wohl keinen Ort auf der Welt, weder im konservativsten Islam noch im fundamentalistischsten Christentum, wo so viel gebetet wird wie in Tibet. Lhasa ist das tibetische Mekka; jeder Tibeter sollte einmal im Leben eine Pilgerreise dorthin unternommen haben. Yeshe unternahm sie als Junge, doch seine Odyssee hat ihn seinem Traum, den Dalai-Lama zu sehen, nicht näher gebracht. »Wird er irgendwann kommen?«, fragt er mich, doch darauf |174| weiß ich keine Antwort. »Natürlich kommt er«, beantwortet er seine Frage selbst.
Der kleine Mönch führt mich über versteckte Wege zu Dörfern, die auf keiner Karte verzeichnet sind. Wir entfernen uns von der Stadt, durchstreifen bereifte Flusslandschaften, kommen an fahlgelben Gerstenfeldern und von Schnee versilberten Ebenen vorbei, fahren an Gebetsfahnen vorüber, die im ewigen Wind flattern und die Bittgebete zum Himmel emportragen, wo es indes keinen Himmelsgott zu geben scheint, der die Bitten des tibetischen Volkes erhört. Doch die Tibeter lassen ihre Fahnen weiter wehen, überall, überzeugt, dass irgendjemand zuhört, schließlich haben sie den unerschütterlichen Glauben jener Völker, die, hoch hinauf auf den Himalaja gehoben, den Himmel mit den Händen berühren können. Wenn man Gott so nahe ist, wie könnte er einen da nicht erhören?
Wir halten in Dörfern aus Stein und Staub. Die Geschichte ist immer die gleiche. Die Soldaten waren vor uns hier, haben die Häuser nach Fotos des Dalai-Lama durchsucht und die jungen Leute mitgenommen, die zu stolz waren, um den Mund zu halten. Viele sind kurzerhand verschwunden, und niemand erwartet mehr ihre Rückkehr. Die Mönche der örtlichen Tempel wurden ein ums andere Mal ersetzt, ständig verfolgt durch ein Regime, das noch nie wusste, wie man dieser »Armee des Mitgefühls« entgegentreten soll, die unbewaffnet Widerstand leistet und sich vom Dalai-Lama führen lässt, ohne dass dieser anwesend sein müsste. Am Ortseingang weht die rote, mit Sternen versehene Fahne des kommunistischen China. Die Alten weinen um das gedemütigte Tibet. »Verstehst du? Uns
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