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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Jimenez
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Schaffellmützen Sportsonnenbrillen und unter ihren Arbeitskitteln Nike-Hemden mit dem Spruch »Just do it« tragen. Von ihren Eltern und Großeltern wissen sie, dass es nur Leid einbringt |177| , sich der chinesischen Vorherrschaft zu widersetzen. Nun wollen sie aus ihrem geraubten Land wenigstens einen Nutzen für sich selbst ziehen.
    Yeshe kann nicht verbergen, wie sehr ihn die Veränderung Tibets schmerzt. Er war nach Lhasa gekommen, um zu meditieren und in Erwartung der Rückkehr des Dalai-Lama die Lehren Buddhas in sich aufzunehmen, doch der Potala-Palast ist nicht mehr das Paradies spiritueller Unterweisung, das er sich vorgestellt hatte. Er steht morgens um fünf Uhr auf, studiert ohne Unterbrechung und versenkt sich dann in die Praxis der Debatte, endlose Diskussionen, mit denen die Mönche die Wege der Erleuchtung und Weisheit suchen. Alles, was er seit seiner Ankunft getan hat, diente der Vorbereitung auf den großen Augenblick, wenn Er kommen würde.
    Plötzlich ist sein Optimismus verflogen, Schatten fallen auf seinen Weg. Die Lektüre wird von Umerziehungskursen und patriotischen Studien unterbrochen, die das Amt für Öffentliche Sicherheit verlangt. Die Parteifunktionäre versuchen, den Mönchen die Wertschätzung eines Kommunismus beizubringen, der im Rest Chinas längst nicht mehr gilt, und diese Heuchelei bringt Yeshe zur Verzweiflung. Die Sitzungen enden damit, dass die Polizisten Blätter verteilen, auf denen die Mönche den Dalai-Lama anprangern und jeden Mönch anzeigen sollen, der Gesetzesverstöße begangen hat. Was Yeshes wirklich in Rage bringt und seinen Geduldsfaden beinahe reißen lässt, ist, dass nicht alle diese Formulare unbeschrieben wieder abgeben. »Man kann niemandem trauen. Vielleicht war es ein anderer Mönch, der Rinzen angezeigt hat«, sinniert er traurig.
    Der kleine Mönch begreift nicht, dass Heldentum eine außergewöhnliche Charaktereigenschaft ist, die man nicht von allen verlangen kann. Yeshe hat die Kindheit hinter sich gelassen, um ein Heranwachsender zu werden, der auf die Rückkehr des Dalai-Lama wartet, doch während des Wartens hat sein Mitgefühl Schaden genommen. Er ist an dem Punkt angelangt, wo er seine Reise fortsetzen |178| muss, wenn er nicht zusehen will, wie alles, woran er glaubt, nach und nach vor seinen Augen in sich zusammenstürzt.
    »Ich habe mich entschlossen«, verrät er mir, als wir durch das ländliche Tibet zurück nach Lhasa fahren. »Sobald ich das Geld für die Reise zusammen habe, werde ich nach Dharamsala gehen, um beim Dalai-Lama zu sein.«
    Es ist einfacher, im Sommer aus Tibet zu flüchten; die Tibeter versuchen es fast immer im Winter. Wenn die Temperaturen unter minus zehn Grad fallen und die Schneefälle die Wege in tödliche Fallen verwandeln, reduziert die chinesische Armee an der Grenze die Wachen und die Chancen steigen, dass man bis nach Nepal gelangt, ohne von den Soldaten niedergeschossen zu werden. Von dort aus streben die Tibeter, die ihre Hoffnung verloren haben, ins indische Dharamsala, wo die tibetische Exilregierung ihren Sitz hat und die Flüchtlinge, mit dem Dalai-Lama vereint, den Schutz Buddhas suchen.
    Die Ältesten erzählen, dass sie auf dem Weg hierher nur die eine Angst hatten, zu sterben, ohne ihn gesehen zu haben. Die Jüngsten unter den Flüchtlingen sind Säuglinge und Kleinkinder. Ihre Mütter lassen sie in Dharamsala zurück und kehren nach Tibet zurück, um sich um den Rest ihrer Familien zu kümmern, eine Reise, die dem Ziel dient, Mitglieder der künftigen Generationen in der tibetischen Tradition erziehen zu lassen und darauf zu warten, dass sie eines Tages zurückkehren können, um das Land wiederaufzubauen. Dass die Tibeter der Gewalt abgeschworen haben, bedeutet nicht, dass sie nicht bereit sind, weiter zu kämpfen. Sie haben lediglich akzeptiert, dass in dieser Überlebensschlacht alle Opfer auf ihrer Seite fallen müssen.
    Der Dalai-Lama empfängt alle Neuankömmlinge, ob klein oder groß, und hört sich die Geschichten ihrer Drangsalierung an, die das Volk, das er selbst zurückgelassen hat, so sehr auf die Probe stellt. Es wird erzählt, dass einer der Flüchtlinge, die in Dharamsala ankamen, ein Mönch, der in einem chinesischen Gefängnis eingekerkert und gefoltert worden war, ihm einmal von der großen |179| Gefahr berichtete, in die er während seiner Gefangenschaft geraten sei.
    »Was für eine Gefahr war das?«, fragte der Dalai-Lama.
    »Die Gefahr, das Mitleid mit den Chinesen zu

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