Kinder des Monsuns
läuft die Zeit davon«, raunt Yeshe.
Der Himalaja mit seinen imposanten, bis in die Wolken aufragenden Felswänden ist der Ringrichter in einem Schwergewichtskampf, denn von alters her kommt ihm die Aufgabe zu, zwei Giganten voneinander zu trennen: China und Indien. Die kleinen Himalajareiche in schneebedeckter Höhe, Tibet unter ihnen, fühlten sich dank ihrer Isoliertheit jahrhundertelang sicher. Sie bewohnten |175| eine Welt, die zu ungastlich, einsam und rau für all jene war, die ein solch hartes Leben nicht im Blut hatten. Als nichts und niemand Dschingis Khan aufhielt, stellte sich ihm der Himalaja in den Weg. Wen muss man fürchten, wenn man am Ende der Welt lebt?
Doch die Welt wurde kleiner, und die verlorenen Reiche wurden entdeckt und bestiegen, ihre Menschen von den Völkern der Ebenen eingepfercht und ihre Länder von benachbarten Reichen erobert. Der Himalaja hörte auf, ein Zufluchtsort zu sein. Mit der Zeit mussten sogar Länder wie Nepal und Bhutan, die der Einladung widerstanden und ihre Unabhängigkeit bewahrt hatten, ihre Tore öffnen, sonst wäre früher oder später jemand gekommen, um sie einzutreten. Tibet traf die Entscheidung, die seinen verschlossen zu halten. Hätte es sich retten können, wenn es sich der Welt geöffnet hätte und in die internationale Ordnung eingetreten wäre, wenn es reguläre diplomatische Beziehungen aufgenommen hätte, die Ausländern die Einreise und eine Modernisierung des Landes erleichtert hätten, statt in einem überkommenen theokratischen System zu verharren? Wenn seine alten Führer sich darum gekümmert hätten, das Land zu modernisieren, statt den Tag mit Beten zu verbringen?
Das ist schwer zu sagen. Tibet wäre für China trotzdem ein sehr verlockender Flecken Erde geblieben – geopolitisch als strategisches Einfallstor nach Zentralasien und als Erweiterung der chinesischen Grenzen bis nach Indien, dem natürlichen Konkurrenten um die Hegemonie in Asien; aufgrund seines Reichtums an natürlichen Ressourcen, und weil es Asiens Wasserquelle ist, die eines Tages den Durst des chinesischen Volkes löschen könnte. Doch für Mao wäre es weit schwieriger gewesen, die Besetzung Tibets zu rechtfertigen, wenn es abgesehen von seiner eigenen Religion, Sprache und Ethnie nicht ein halbfertiges Land gewesen wäre. Die Lamas glaubten, dass Veränderung zum Untergang führen würde. Jetzt vollziehen sich die Veränderungen im Land weit schneller und werden von außen aufgezwungen, ohne dass die Tibeter über |176| sie mitentscheiden könnten. Nun ist es zu spät, über verpasste Chancen zu lamentieren: Der säbelrasselnde, ehrgeizige Protz von nebenan hat die Tore längst eingetreten.
Von Yeshes Zelle aus hört man all diese Veränderungen mehr noch, als man sie sieht. Unter den Klang der Zimbeln, Sutrengesänge und im Chor rezitierten heiligen Texte im Potala-Palast mischt sich heute das monotone Schlagzeug- und Bassgewummer aus der Diskothek JJ, die wenige Meter vom Tempel entfernt eröffnet wurde. Längst besteht für Yeshe die größte Bedrohung Tibets nicht mehr in den Soldaten. Die militärische Eroberung ist seit langer Zeit abgeschlossen, doch die Zerstörung der heimischen Kultur schreitet aufgrund der massiven Einwanderung von Hanchinesen rasch voran. Der nächste Schritt, der Tibet für immer verändern wird, ist, wie Yeshe befürchtet, die kommerzielle Invasion, die mit den Neuankömmlingen Einzug gehalten hat und einen der letzten Orte zu beugen droht, die gegenüber dem Materialismus immun geblieben sind. Die Kommerzialisierung droht Tibets Menschen der Spiritualität zu entfremden, die so lange Zeit hindurch ihre einzige Verteidigung gegen die Assimilation war.
Lhasa wurde nach und nach mit Restaurants, Karaoke-Bars mit Bordelldekor, Massagesalons und Souvenirläden überzogen, deren Andenken in Nepal produziert werden, feilgeboten von chinesischen Immigranten, die nicht viel von dem wissen, was sie verkaufen, aber im Verhökern unschlagbar sind. Auch Prostitution ist heute im Stadtbild Lhasas präsent. Die Bagger reißen gnadenlos Gebäude im tibetischen Stil ab, an deren Stelle weiße Betonblocks mit blaugetönten Glasfluchten hochgezogen werden, wie sie überall in den chinesischen Städten wie Pilze aus dem Boden schießen. Peking hat dem Herz von Tibet seinen zügellosen Fortschritt und die Entmenschlichung seiner Städte eingepflanzt. Einige junge Tibeter haben begonnen, sich von den älteren abzuheben, indem sie unter ihren
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