Kinder des Monsuns
verlieren«, erwiderte der Mönch.
Yeshe hatte sein Dorf und seine Familie verlassen, um in der Nähe des Dalai-Lama zu sein. Nun war genug Zeit seit seiner Ankunft in der Hauptstadt vergangen, um sich davon zu überzeugen, dass sich sein Vater geirrt hatte und die chinesische Regierung niemals seine Rückkehr erlauben würde. »Glaubst du, dass die Chinesen es erlauben werden?«, fragt er mich abermals. Ich antworte, dass ich es nicht weiß, dass es mich jedoch traurig macht, zu sehen, wie junge Menschen wie er, die Zukunft Tibets, das Land verlassen. Wenn die Tibeter weiter nach Dharamsala abwandern, während sich gleichzeitig Tausende von Hanchinesen in ihrem Land ansiedeln, welche Zukunft wird Tibet da zu erwarten haben? Ich kann die Verehrung verstehen, die Yeshe für den Dalai-Lama empfindet, aber nicht, dass sie größer ist als die Gefühle für sein Volk.
Doch sicher bin ich ungerecht. Darf man von jemandem verlangen, Tag für Tag Demütigungen zu ertragen? Den langsamen, aber unaufhaltsamen Verlust der eigenen Prinzipien mit anzusehen? Die absolute Ungerechtigkeit einer geraubten Zukunft zu erdulden? Wenn er bliebe, würde Yeshe dann nicht das Mitleid verlieren, das der Dalai-Lama von ihm verlangt und das sein Daseinsgrund ist? Hat er denn nicht das Recht, nach Freiheit zu streben? Als ich ging, ließ ich etwas Geld in Yeshes Truhe, um ihm zu helfen, nach Dharamsala zu reisen oder sich alle verbotenen Fotos des Dalai-Lama zu kaufen, die er nur auftreiben konnte, falls er sich schließlich doch noch zum Bleiben entschloss.
Wir steigen bei Tagesanbruch auf eine der Terrassen des Potala-Palastes, doch Lhasa ist von dichtem Morgennebel verschleiert. Nach und nach enthüllt es sich dem Auge, Haus für Haus, und zeigt sich schließlich mit den ersten Sonnenstrahlen in all seiner Pracht. Bevor wir uns verabschieden, bitte ich Yeshe, mir etwas |180| zu versprechen, und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als mit einem Lächeln zuzustimmen. »Erzähl den Touristen nichts mehr von Politik, versteckten Mikrofonen und Repression. Weißt du, wenn du so weitermachst, wirst du enden wie Rinzen. Und wofür? Viele Touristen interessiert es nicht einmal, sie kehren in ihre Heimat zurück und vergessen Tibet. Du aber bleibst.« Natürlich ist Yeshe viel zu jung und idealistisch, um sein Versprechen zu halten und seine Zunge zu zügeln.
Nach dieser letzten Begegnung rief ich ihn noch einige Male im Potala-Palast an. Bei unserem letzten Gespräch, bevor ich den Kontakt zu ihm endgültig verlor, flüsterte er mir wieder regimekritische Worte ins Ohr. »Sag mir nichts, was wir beide wissen, dieses Telefon wird abgehört. Manchmal hören wir die Spione der Regierung in der Leitung.«
»Hast du unsere Abmachung vergessen?«, frage ich ihn.
»Nein«, erwidert er und lacht. »Aber du bist ja auch kein Tourist, oder?«
*
Zum Klang einer Kassette mit Bollywood-Musik, die er zur Belebung der elfstündigen Fahrt ausgewählt hat, fährt mich Harij nach Dharamsala, dem Sitz der tibetischen Exilregierung. Auf der Fahrt müssen wir Elefanten und Kühen auf der Straße ausweichen, es sind Pisten, die zweifellos eigens für sie gebaut wurden. Harij rühmt sich, dass es hinter dem Steuer niemand mit ihm aufnehmen kann. Im Unterschied zu Masa, meiner unerschrockenen Taxifahrerin in Bangkok, hatte er nie einen Unfall. Dieser Umstand, der an jedem anderen Ort der Welt beruhigend gewesen wäre, lässt mich in Indien ein unmittelbar bevorstehendes Unglück befürchten, denn angesichts von Harijs Fahrstil kann sich die Unbeflecktheit seiner bisherigen Fahrpraxis nur einer Nachlässigkeit der Wahrscheinlichkeitsgesetze verdanken, die in der nächsten Kurve sehr wohl korrigiert werden könnte.
|181| Sinnlos, sich zu fragen, auf welcher Straßenseite man in Indien fährt. Man wählt, schlicht gesagt, die Seite, zu der man Lust hat, rechts, links und, vor allem, die Fahrbahnmitte. Es spielt auch keine Rolle, ob das entgegenkommende Auto zufällig denselben Teil der Straße in Beschlag nimmt. Normalerweise steuern die beiden Vehikel in einer Art russischem Roulette dann einfach mit Höchstgeschwindigkeit aufeinander zu, bis sich eines von beiden geschlagen gibt und abrupt zu einer Seite ausschert.
»Haha!«, ruft Harij stolz aus, als er seinen jüngsten Zweikampf gewonnen hat. »Immer machen sie einen Rückzieher.«
In einem fahrenden Auto zu lesen hat mich immer schwindelig gemacht, doch dieses Mal versenke ich mich in ein Buch, das ich
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