Kinder des Monsuns
Indien überließ den oberen Teil der Ortschaft dem tibetischen Führer und den Tausenden von Landsleuten, die ihm ins Exil folgten. In einem schlechten Jahr ist es, als hätte der Monsun über der Stadt Quartier bezogen – es kann an 300 Tagen im Jahr regnen –, die Kommunikationsverbindungen zur Außenwelt sind schrecklich und das Leben ist schwierig, doch niemand hat in diesem Ort je mehr gesehen als ein geliehenes Haus, ein im tibetischen Stil errichtetes Provisorium, das Vorzimmer zur Rückkehr, die nie aufhört, näher zu rücken.
»Klein-Lhasa«, wie die Einheimischen es nennen, hat sich seit der Ankunft der ersten Flüchtlinge sehr verändert. In Restaurants und den Zimmern tibetischer Jugendlicher hängen Fotos von Richard Gere, des amerikanischen Schauspielers, der zu einem Förderer der tibetischen Sache geworden ist, neben Porträts des Dalai-Lama. Es gibt mehr Lärm und so etwas wie Verkehr – vor einigen Jahren noch undenkbar. In einer Gasse hat das Tibetan Memory Theatre geöffnet, ein winziges, mit ein paar Bänken und einem alten, schweren Fernsehgerät hergerichtetes Kino. Das Plakat kündigt |184| das vorhersehbare Programm an: zwei Vorführungen von
Sieben Jahre in Tibet
mit Brad Pitt. Auch ein Schönheitssalon und einige Touristenbars haben aufgemacht, die überwiegend von israelischen Rucksacktouristen besucht sind. Es ist Sommer 2003, im Nahen Osten herrscht Krieg, und es gibt nicht viele Orte, wo Israelis Urlaub machen können, ohne Bombenattentate befürchten zu müssen. Dharamsala ist einer davon.
Die Stadt liegt im stetigen Streit um die Frage, ob die alten Traditionen, die die Exilanten in ihrem Gepäck mitbrachten, bewahrt oder modernisiert werden sollten, um nicht unterzugehen. Diese Entscheidung, vor die sich früher oder später viele indigene Völker gestellt sahen, ist im Falle der Tibeter noch dringlicher, weil ihre Kultur in der Heimat kurz davor steht, ausgelöscht zu werden, und ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt, um zu entscheiden, was auf dem Weg zur Rettung der Nation zurückgelassen und was bewahrt werden soll. Einige Ältere zum Beispiel sind weiterhin für ein Fußballverbot, wie die Mönche der buddhistischen Himalajareiche, die, als die Europäer das Fußballspielen einführten, entsetzt glaubten, der Ball stelle den Kopf Buddhas dar. In dem gleichen Ball erblicken die Jungen jedoch ein Zeichen ihrer Identität und träumen davon, in der tibetischen Nationalmannschaft zu spielen, die von den Chinesen zwar zu keinem internationalen Tournier gelassen wird, jedoch ab und zu mit Stolz ein Freundschaftsspiel bestreitet. Für die in Dharamsala geborenen Tibeter kommt der Identität, oder besser, dem Mangel an ihr, große Bedeutung zu, denn offiziell sind sie weder Tibeter noch Chinesen noch Inder. In Wirklichkeit sind sie Bürger eines Landes, das nur in der Vorstellung seiner Bewohner existiert, die in einem vergessenen Winkel der Welt leben, wo der Sauerstoff, der das Leben erhält, aus Erinnerungen an einen Ort besteht, den die Jungen nie gesehen haben und die Älteren nicht wiedererkennen würden. In ihren Ausweisen steht: »Nationalität: staatenlos«.
Am Vorabend meiner Begegnung mit dem Dalai-Lama bin ich mit dem Medium des Orakels des Nechung-Klosters verabredet, |185| bis heute das wichtigste Staatsorakel der tibetischen Exilregierung. Seit Jahrhunderten wird diese Funktion von einem Mönch des Klosters ausgeübt, dem besondere Kräfte zugesprochen werden. Er ist der Einzige, der das Orakel befragen und in Zeiten der Krise oder vor großen Entscheidungen dessen Ratschläge dem Dalai-Lama übermitteln darf. Das gegenwärtige Medium von Nechung ist der ehrwürdige Thupten Ngodup, ein junger Mönch mit kräftigen Gesichtszügen, der ein bisschen Englisch radebrecht und vom Leben weit mehr weiß als seine Vorgänger, die in Tibet gewöhnlich strengstem Klosterleben unterworfen waren. Ngodup ist der Beweis, wie sehr sich die Dinge verändern. Er begrüßt mich in seiner Mönchsstube im Kloster und überreicht mir seine Visitenkarte. »The Medium of the Tibet’s State Oracle«, ist dort zu lesen und, unter seinem Namen, eine E-Mail-Adresse bei Yahoo. Ngodup hat Sinn für Humor und lacht, als ich den Widerspruch zwischen seiner Fähigkeit kommentiere, mit dem Jenseits in Kontakt zu treten, und der Notwendigkeit, die Kommunikation mit den übrigen Sterblichen mit irdischeren Mitteln zu bestreiten. Ich lese das Kärtchen noch einmal. Kein Zweifel: Es ist die
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