Kinder des Monsuns
eigens mitgenommen habe, um weder auf die Straße blicken noch an die Wahrscheinlichkeitsgesetze denken zu müssen. Es handelt sich um die Autobiografie eines Menschen, den ich bald kennen lernen werde: Jetsun Jamphel Ngawang Lobsang Yeshe Tenzin Gyatso (Heiliger Herr, Sanfte Herrlichkeit, Beredsamkeit, Wiedergeburt des Mitleids, Ausgezeichneter Verteidiger des Glaubens, Ozean der Weisheit).
In einem der Kapitel des Buchs erzählt der Dalai-Lama eine Anekdote, die viel über seinen Charakter verrät. Als Junge stieg er regelmäßig auf eine Terrasse des Potala-Palastes und spähte durch sein altes Teleskop zum Horizont, bis er den Innenhof des Staatsgefängnisses Shol im Blickfeld hatte. Wenn die Inhaftierten bemerkten, dass der kleine Mönch sie beobachtete, ließen sie sofort von ihrem Treiben ab, um sich vor ihrem Gottkönig niederzuwerfen. Diese Bezeugungen blinder Huldigung beschämten den Tenzin Gyatso immer wieder, weil sie von Menschen kamen, die ihm am wenigsten zu danken hatten, doch auch deshalb, weil sie an einen jener Geister gerichtet waren, deren Größe gerade darin liegt, nie den Ehrgeiz besessen zu haben, mehr als ein Niemand zu sein.
Der Dalai-Lama hat sich die Schlichtheit der Kindheit bewahrt, so als wäre er in der Lebensphase stehen geblieben, in der wir noch frei von Eitelkeiten und ohne die konventionellen Einstellungen |182| sind, die sich in späteren Jahren ausbilden. Wenn die Menschen ihn als Gott betrachten, erinnert er an seine irdischsten Schwächen; wenn sie ihn öffentlich verehren, steigt er eine Stufe hinab, um sich auf Augenhöhe mit ihnen zu begeben; wenn sie ihn wie einen Staatschef behandeln, scherzt er, dass er gerne einen hätte; und wenn seine Gläubigen sich vor ihm niederwerfen, errötet er wie der Knabe auf der Terrasse des Potala-Palastes, der entdeckt, dass sich das, was wir sind, nicht immer mit dem deckt, was die anderen in uns erblicken.
Nein, der 14. Dalai-Lama wurde nicht zum Befehlen geboren, und doch hat ihm das Schicksal unter den verantwortlichen Positionen das schwierigste Amt aufgebürdet: Führer eines Volks ohne Heimat, eines gestohlenen Landes zu sein. Über vier Jahrzehnte sind vergangen, seit der Dalai-Lama den bis heute traurigsten Tag seines Lebens erlebte. Es war der letzte Märztag 1959. Nachdem er Hunderte Kilometer durch den Schnee marschiert war und sich 24 Tage vor den chinesischen Invasionstruppen versteckt gehalten hatte, gelangte er zur Grenze und verabschiedete sich unter Tränen von Tibet und seinen Menschen, die ihr Leben riskiert hatten, um ihn ans Ziel seiner Flucht zu bringen.
Damals befielen ihn Zweifel: War es nicht feige, sein Volk im Stich zu lassen? Wäre es nicht besser, zu bleiben und das Joch der Seinen mitzutragen, oder konnte er aus der Ferne mehr für sie tun? Dass ihm die Zeit Recht gegeben hat – die Welt hätte Tibet längst vergessen, wenn der Dalai-Lama nicht vom Exil aus für seine Sache eingetreten wäre –, hat seine Zweifel nicht ausgeräumt, sondern nur seinen unauslöschlichen Traum bestärkt, in sein Land zurückzukehren.
Harij erfüllt sein Versprechen und liefert mich vor Sonnenuntergang heil in der Pension Chonor auf der Tempelstraße von Dharamsala ab. Die Herberge hat elf Zimmer im tibetischen Stil und einen Garten mit Zedern, der die Ruhe eines buddhistischen Klosters verströmt. Das Haus ist perfekt gelegen, nur fünf Fußminuten von der Residenz des Dalai-Lama entfernt und ein wenig abseits |183| der Hotels für westliche Rucksacktouristen, die auf der Suche nach Erleuchtung in die Stadt kommen. Vor einigen Tagen hat mir der persönliche Assistent des Dalai-Lama, Tenzin Taklha, mitgeteilt, dass meiner Bitte um ein Interview, die ich vor Monaten an ihn gerichtet hatte, entsprochen werde. In seinem Schreiben gab er mir einige Ratschläge für das Treffen und warnte mich, dass im Gespräch mit der Reinkarnation des Mitgefühls die Zeit wie im Flug vergehe. Er empfiehlt mir daher, konkrete und direkte Fragen zu stellen. Der brave Taklha sagt es durch die Blume: Der Dalai-Lama redet wie ein Wasserfall. Mein guter Kollege Martin Regg vom
Toronto Star
hatte ihn einige Tage vor mir interviewt und eine Bitte an ihn gerichtet: »Verzeihen Sie, Eure Heiligkeit, aber ist es möglich, dass ich Sie ab und zu unterbreche? Die Zeit ist kurz, und es gibt viel, was ich Sie fragen möchte.« Der Dalai-Lama lachte und ließ sich unterbrechen.
Dharamsala war all die Jahre kein schlechtes Zuhause für den Dalai-Lama.
Weitere Kostenlose Bücher