Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Jimenez
Vom Netzwerk:
haben gelernt, die Razzien zu fürchten.
    »Werden sie diese Nacht kommen?«
    An die Wände des Schlupfwinkels sind die Namen der Bandenmitglieder geschrieben. So ist ihr Territorium markiert, und die anderen Kinder wissen, dass dieses Versteck besetzt ist. Von einer Röhre baumeln einige Kleiderbügel mit Sachen, und in einem improvisierten Ablagefach – ein Loch in der Wand – finden sich ein Stück Seife und ein Parfümfläschchen, von dem die Großen nur mit äußerster Sparsamkeit Gebrauch machen.
    Der Schacht hat zwei Ausgänge, einer führt auf den Bürgersteig, der andere genau auf die Mitte der Straße, sodass es einem unachtsamen Jungen den Kopf abreißen könnte, wenn er aus dem Schacht steigt und etwa gerade der offizielle Konvoi des Premierministers mit seinen prachtvollen Leichenwagen die Straße hinunterführe. Doch niemand könnte dem Premierminister seine Geistesabwesenheit zum Vorwurf machen: Die Politiker der Mongolei, die vollauf damit beschäftigt sind, den Einzug des Kapitalismus zu nutzen, um sich bis zum Äußersten selbst zu bereichern, scheinen noch nicht bemerkt zu haben, dass bei ihnen 4 000 Kinder unter der Erde leben.
    Die Bande von Ewige Schönheit besteht aus fünf Jungs und einem Mädchen. Ewige Schönheit und Soso liegen mit 13 und 14 Jahren in der Mitte. Allzeit Stark, ein winziger Knabe von zehn Jahren, ist der Kleinste. Kostbare Zier ist elf, ein wildes und scheues Mädchen, das mit der Gewandtheit eines Eichhörnchens über die Röhren springt und wunderschöne nachtschwarze Augen hat, die stets hinter ihrem struppigen Haar verschwinden. Sie spricht nie, vielleicht glaubt sie nicht, diesem Fremden, der ohne zu fragen in ihr Haus eingedrungen ist, etwas Interessantes mitteilen zu können. Mit 17 beziehungsweise 16 Jahren sind Tapferer Held und sein |201| Kumpan Wahrer Held die Veteranen. Keinem von ihnen sieht man sein wahres Alter an, durch die Jahre unter der Erde und die Mangelernährung sind sie klein geblieben und wirken zwei, drei Jahre jünger.
    Die Großen sind mit Allzeit Stark zum Schwarzmarkt gegangen, wo sie versuchen, Touristen und unachtsamen Passanten die Brieftaschen zu stehlen. Chinzorig hat sich darüber lustig gemacht, doch dann gehen wir zum Markt, sehen, wie sie arbeiten, und eine andere Bande erleichtert ihn um sein Portemonnaie.
    »Die sind gut, diese Rotznasen«, muss er einräumen und ist froh, dass wenigstens ich noch im Besitz meiner Brieftasche bin.
    Die Kanalbanden teilen sich untereinander die Arbeit und das Geld, um Essen, Kleidung und Wodka zu besorgen. Die Mädchen verkaufen ihren Körper an den Bushaltestellen für fünf Dollar, während die Jungs kleinere Jobs suchen oder im Abfall nach Essensresten wühlen. Wenn sie damit keinen Erfolg haben und keine Fahrgäste mit der Transmongolischen Eisenbahn ankommen, verkaufen auch sie sich an einen der betrunkenen Herumtreiber, die fast immer die Zeche prellen. Das Leben ist für niemanden leicht auf den Straßen von Ulan-Bator, am wenigsten jedoch für die Kleinen, die unter ihnen leben. Niemand fragt Kostbare Zier, woher sie ihr Geld bekommt. Alle wissen es.
    Der erste Winterfrost ist besonders hart, jetzt bricht der Streit um die besten Schlafplätze aus. Ewige Schönheit und seine Freunde wurden von einer größeren Bande aus dem geräumigsten und bestgelegensten Schacht, in dem sie im Oktober Unterschlupf gefunden hatten, verjagt. Im Winter ist die Unterwelt klar in Territorien aufgeteilt, nach Auseinandersetzungen, die häufig in brutalen Schlagabtäuschen mit Messern und Fäusten enden. Wer sich in eine fremde Zone wagt, kann sich eine schöne Tracht Prügel einfangen, manchmal auch ums Leben kommen. Tapferer Held hat an vielen dieser Keilereien teilgenommen und genießt über seine Bande hinaus Respekt. Seinen ersten Tag auf der Straße verbrachte er 1990, kurz nach dem Zusammenbruch |202| der Sowjetunion und der Einführung der Demokratie in der Mongolei.
    In der Sowjetzeit hatte Moskau das Land mit umgerechnet 900 Millionen Dollar jährlich subventioniert. In sieben Jahrzehnten Vorherrschaft lieferte die Sowjetunion den Mongolen nicht nur ihre Ideologie frei Haus, sondern auch sämtliche Waren. Der durchschnittliche Mongole, der unter den Sowjets einen garantierten Arbeitsplatz hatte, eine Wohnung, Grundnahrungsmittel und eine Rente, sah sich mit der urplötzlichen Ankunft des Kapitalismus unerwartet vor die Notwendigkeit gestellt, sich einen neuen Lebensunterhalt zu suchen. Die Leute

Weitere Kostenlose Bücher