Kinder des Monsuns
aus, fasst den schweren Eisendeckel und zieht ihn so leise wie möglich ein paar Handbreit zu sich heran. Soso hat ihm gezeigt, wie man das macht: Man lässt einen Spalt frei, der schmal genug ist, damit niemand eindringen kann, ohne den Deckel beiseite zu schieben. So werden sie vom Ratschen alarmiert, bevor jemand sie im Schlaf überrascht. Der Spalt muss zugleich breit genug sein, damit sie flüchten können, wenn sich jemand von innen durch den anderen Einstieg nähert.
Ewige Schönheit nimmt zwei feuchte Kartons und bereitet damit auf der breiteren Rohrleitung sein Lager, immer bemüht, nicht in den Schlamm auf dem Boden zu fallen. Er rollt sich wie ein Fötus zusammen, kneift die Augenlider fest zusammen und schwört sich, sie nicht mehr zu öffnen, bis das erste Morgenlicht in ihren Schlupfwinkel dringt. Es wurmt ihn, immer der Ängstlichste der Bande zu sein, doch auch heute, wie fast jeden Abend, |194| fragt er seinen Freund Soso, ob sie diese Nacht kommen werden. »Wie kann ich das wissen? Meinst du vielleicht, ich weiß alles?«, erwidert Soso so widerwillig und genervt immer.
Ewige Schönheit (Manhaisan), Allzeit Stark (Batmonh), Kostbare Zier (Erdenechimeg), Tapferer Held (Saibatar), Wahrer Held (Ijilbaatar), Fülle (Ysunai), Pfeilspitze (Jebe)… Die Mongolen geben ihren Kindern die schönsten Namen der Welt, doch erst, wenn das Kind schon zwei oder drei Jahre alt ist und es den Anschein hat, als wolle es auf der Welt bleiben, nimmt Tengri, der Himmelsgott der Mongolen, sie als seine Kinder an. Ewige Schönheit kann sich nicht daran erinnern, doch seiner Mutter dürfte es schwer gefallen sein, ihre Freude zu verbergen, als sie ihn mit seinen roten Pausbäckchen zur Welt brachte. Sicher beleidigte sie ihn lauthals, während sie ihn aus ihrem Bauch presste, wie es die Gebärenden der Steppe tun, mit geheuchelten Tränen und gespielter Verachtung, um die bösen Geister glauben zu machen, dass er hoffnungslos hässlich sei und es nicht der Mühe lohne, ihn zu rauben und in die Schattenwelt zu entführen.
Ewige Schönheit wurde zwischen Kamelfellen in einer Jurte geboren, dem Haus der Nomaden, dort, wo die Wüste Gobi aufhört, wie die einen sagen, oder anfängt, wie andere meinen, an einem namenlosen Ort mitten im Nichts, in einem Zelt, das sein Vater von einem Ort zum anderen schaffte, je nachdem, ob die Weiden Raureif oder Blumen trugen. Sieben Jahre später erschien alles nur noch Raureif, der Winter hatte sich bis in den April ausgedehnt und die Familie fand kein Auskommen mehr in den endlosen Weidegründen, an deren Anblick sich die Horden des Dschingis Khan auf ihren Eroberungsfeldzügen berauscht hatten. Die Pferde starben, die Vorräte gingen zur Neige, es gab keine Milch für Ewige Schönheit, und wenn doch, so blieb nichts für seine Geschwister. Die Familie versammelte sich im Zelt und beschloss, dass ihr als einziger Ausweg nur die Flucht in die Stadt blieb.
Doch es gibt nichts für mongolische Nomaden in der Stadt, so wie es für Touh Sokgan und Kong Thai im kriegsversehrten Phnom |195| Penh und für die Eltern von Reneboy im brutalen Manila nichts gab. Wie andere Nomaden, die auf der Suche nach einer Chance aus allen Winkeln der Mongolei gekommen waren, schlug die Familie von Ewige Schönheit ihre Jurte am Stadtrand von Ulan-Bator auf. Ohne Arbeit, Lebensmittel und staatliche Unterstützung verschlechterte sich ihre Situation zusehends. Schließlich packten die Eltern von Ewige Schönheit wieder ihre Sachen zusammen, um in die Steppe zurückzukehren, doch den Sohn, der zu einer zu großen Belastung für sie geworden war, ließen sie vor den Büros des Sozialministeriums zurück, in der Erwartung, dass sich ein Beamter seiner annehmen, ihn in ein Waisenhaus geben und verstehen würde, dass sie nicht aus Grausamkeit handelten, sondern aus Liebe. In jener Nacht, im Alter von nur sechs Jahren, schlief Ewige Schönheit zum ersten Mal in der Wärme der Heizungsrohre unter der Stadt.
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Die amerikanische Fotografin Paula Bronstein, die ich 1999 auf Osttimor kennen lernte, als dort die indonesischen Truppen wüteten, war die Erste, die mir von den Straßenkindern Ulan-Bators erzählte, die in den Fernwärmeschächten der Stadt hausen. Eins von Paulas Bildern zeigte einen Jungen, der bei mehreren Grad unter Null neben einem Einstieg hockend eingeschlafen war, als ihn die Kraft verließ, zu seinen Kameraden in den Schacht zu steigen. Einige Kinder sterben auf diese Weise: Betäubt durch Alkohol
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