Kinder des Monsuns
unterwarfen alle Völker vom Schwarzen Meer bis zum Pazifischen Ozean, errichteten das größte Reich, das es jemals unter der Sonne gab, und fielen mit |198| einer Welle der Zerstörung und der Gewalt über die Völker her, wie sie sich bis zum Zweiten Weltkrieg nicht wiederholen sollte. Der Herrscher der Steppe, der es als höchste Freude des Mannes bezeichnet haben soll, »die Armeen seiner Feinde zu bezwingen, sie zu verfolgen, sie ihrer Habe zu berauben, ihre Familien in Tränen zu sehen, auf ihren Pferden zu reiten und sich ihrer Frauen und Töchter zu bemächtigen«, erlebte die Zerstörung seines Werks nicht mehr. Wie erst hätte es ihn gedemütigt mitanzusehen, wie es mit der Zeit die mongolischen Frauen waren, derer man sich bemächtigte, zuerst die chinesischen Eindringlinge, dann die Russen und heute jeder, der fünf Dollar in der Tasche hat.
Die jungen Frauen auf der Tanzfläche des Ulaanbaatar Hotel sparen, um zwei- oder dreimal im Jahr die gleiche Reise zu unternehmen, die Dschingis Khan nach Zhongdu führte, steigen in die Transmongolische Eisenbahn und fahren zum Maggie’s, einem Club in der Nähe des Stadions der Arbeiter in Peking. Dort sieht man sie tanzen und an der Theke Freier abschleppen, denen sie zusäuseln, dass ein Stück der mongolischen Legende heute Nacht zu mieten ist.
In den eisigen Nächten von Ulan-Bator, wenn Chinzorig mich zur Diskothek des Ulaanbaatar Hotel bringt, um die »hübschesten Mädchen der Welt« zu sehen, erscheint mir die Mongolei wie ein Zechbruder in einer Kneipenecke, der sich nach einer längst verlorenen Vergangenheit zurücksehnt und noch eine Runde bestellt, um die mit jedem Schluck quälendere Gegenwart zu vergessen. Die Melancholie der Mongolen ist in jeder Bar gegenwärtig, die wir besuchen, im Dschingis-Khan-Hotel, im Dschingis-Khan-Wodka, auf dem das Bild des Herrschers prangt, auf den Schachteln der Dschingis-Khan-Zigaretten, auf den Banknoten mit dem Abbild Dschingis Khans und auf der breiten Dschingis-Khan-Straße, über die wir mit Höchstgeschwindigkeit rasen. Nostalgietrunken harren die Mongolen der Erfüllung der Legende, dass eines Tages der Geist Dschingis Khans in einem Jungen zwischen Kamelfellen wiedergeboren wird, ein Junge wie Ewige Schönheit vielleicht, der |199| den Auftrag hat, diesem Land die Größe verflossener Tage zurückzugeben.
Wir begegnen Ewiger Schönheit und Soso vor dem Eingang des Bahnhofs. Sie haben von den Reisenden der Transmongolischen Eisenbahn etwas Geld verdient und kommen mit zwei großen Müllbeuteln aus dem Gebäude. Ewige Schönheit hat einen traurigen, fast schmerzlichen Gesichtsausdruck, der sich, wie ich später begreife, bei ihm zu einem unveränderlichen physiognomischen Zug verfestigt hat. Der entspanntere Soso blickt stolz nach vorn. Die beiden haben von der Kälte gerötete Wangen, tragen abgerissene Kleidung und blicken sich beim Gehen wachsam um. Chinzorig spricht sie an, offeriert ihnen etwas zu essen und fragt, wo sie wohnen.
»Hier«, sagt Sosos und zeigt auf den Boden.
Es ist kein sehr großer Schacht, der Hohlraum misst ungefähr 50 Quadratmeter und ist kaum zwei Meter hoch. Wir klettern mit ihnen über die Trittleiter hinab. Am Boden steht das Wasser einen halben Meter hoch. Die Wärme trifft uns wie ein Schlag, die Feuchtigkeit macht die Luft hier unten noch stickiger. An den kältesten Tagen ist es möglich, von 30 Grad unter null auf der Straße zu 30 Grad plus in den Schlupfwinkeln unter der Erde hinabzusteigen.
Die Schächte, in denen die Kinder schlafen, sind von unterschiedlicher Höhe und Tiefe und untereinander nicht verbunden. Sie sind nicht Teil des städtischen Abwassersystems, sondern dienen der Wartung des unterirdischen, von Kohlekraftwerken gespeisten Fernwärmenetzes, das noch von den Sowjets gebaut wurde. Die mit kochendem Wasser gefüllten Rohre sind ausreichend breit, dass die Kinder auf ihnen schlafen können, ohne herunterzufallen. An vielen nagt der Zahn der Zeit, ab und zu platzt eines davon. Dann schreit einer: »Haut ab! Haut ab!«, und alle laufen weg, um sich keine Verbrennungen zuzuziehen.
Wenn es Tote unter den Kindern gibt und die Hilfsorganisationen protestieren, veranstaltet die Polizei eine große Razzia, |200| schnappt sich ein paar hundert der Kinder und schließt sie in einer alten Militärkaserne am Stadtrand von Ulan-Bator weg, wo sie häufig erniedrigt und geschlagen werden, bevor man sie wieder auf die Straße lässt. Ewige Schönheit und die anderen
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