Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Jimenez
Vom Netzwerk:
treibt die Angst um, dass bald niemand mehr am Leben sein könnte, wenn er noch länger wartet.
    Familie Fang hat ihn gebeten, noch einige Tage bei ihr zu bleiben, bis er wieder vollständig bei Kräften ist. Sogar Herr Fang mag jetzt den Jungen aus Nordkorea und hat trotz drohender Scherereien mit der Polizei nichts mehr dagegen, ihm Unterschlupf zu gewähren. Doch Kim besteht darauf, aufzubrechen, und Frau Fang hat alles für seine Reise vorbereitet. Sie hat zwei Rucksäcke gekauft und mit allem gefüllt, was seiner Familie in Nordkorea helfen kann. Es müssen Nahrungsmittel sein, die bei möglichst geringem Gewicht so viele Menschen wie möglich so lange wie möglich am Leben halten: Instantsuppen, Zucker, Trockenobst, Mehl und Milchpulver. Bleibt die Frage, wie er zurückkommen soll.
    Es ist nicht leicht, in das hermetisch abgeriegelte Land zu kommen, den Soldaten zu entgehen und zum tyrannischsten aller lebenden |243| Tyrannen zurückzukehren. Die Rückreise wirft sogar noch größere Probleme auf als die Hinreise. Die Temperaturen sind gesunken, nicht so stark, dass der Fluss vereist ist, aber genug, um die Durchquerung noch beschwerlicher zu machen. Die Idee, ein Floß zu zimmern, wird verworfen, weil die Strömung den Jungen flussabwärts treiben könnte, direkt in die Fänge der Soldaten. Frau Fang hat von Furten gehört, wo das Wasser zu dieser Jahreszeit sehr seicht sein soll und kaum bis zu den Knien reicht. »Man könnte zu Fuß hinübergelangen«, sagt sie. Doch diese Stellen werden von den Soldaten besonders gut bewacht.
    Kims größte Sorge ist, dass er entdeckt werden könnte und ihm die Grenzposten seine Lebensmittel abnehmen. Nichtstaatliche Organisationen beschuldigen Kim Jong Il, die humanitäre Hilfe, die das Land erhält, an seine Soldaten zu verteilen, um sie loyal zu halten, doch Nahrungsmittel sind weiterhin von besonderem Interesse: Sie lassen sich für gutes Geld auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Die Soldaten würden nicht zögern, sich die Nahrungsmittel unter den Nagel zu reißen und Kim in ein Zwangsarbeitslager stecken. Wenn Kim Wochen nach seiner Abreise mit leeren Händen in sein Dorf zurückkehren müsste, wäre das für ihn eine furchtbare Niederlage.
    Am Tag seiner Abreise ist man sich einig, dass Kim nur nachts wandern und sich tagsüber versteckt halten soll. Wenn er Soldaten sieht, soll er zum Haus der Fangs zurückkehren. In Nordkorea angekommen, soll er sich rasch von der Grenze entfernen und im ersten Dorf, auf das er stößt, um Hilfe bitten. Jemand wird ihm dort den Weg nach Hause zeigen. Einige Mütter aus Tumen schließen sich Frau Fang an und geben Kim ebenfalls etwas mit auf die Reise. Wir begleiten ihn bis zum Flussufer, die Nachbarn zeigen ihm den Weg zur Furt. Mit seinen Rucksäcken bepackt macht sich Kim auf den Weg. Nach und nach verliert er sich in der Ferne, Schritt für Schritt nähert er sich dem Reich der Dunkelheit, bis es ihn gänzlich verschluckt.
    Ich habe nie erfahren, ob es ihm gelungen ist, nach Hause zu |244| kommen, oder, falls er es schaffte, ob noch jemand übrig war, den er in seinem sterbenden Dorf retten konnte. Es vergingen noch drei Jahre, bevor ich selbst nach Nordkorea kommen sollte, eine Reise, auf der ich so gut begriff wie nie zuvor, welche Odyssee der kleine Kim und so viele andere Nordkoreaner auf der Flucht aus ihrem Land durchgemacht hatten.
    *
    Herr Pak und Frau Sim möchten, dass mein letzter Tag in Nordkorea unvergesslich wird. Sie bringen gute Neuigkeiten. Mein Besuch auf »einer normalen Straße« ist vom Amt genehmigt worden, und so fahren wir zu einer beliebigen Straße und steigen aus dem Auto. Ich bin gehalten, keine Fotos zu machen. »Man hat uns gesagt, dass es einen Zwischenfall im Hotel gab«, weist mich Herr Pak in liebenswürdigem Ton zurecht, »und ich wäre ihnen dankbar, wenn sich dies nicht wiederholen würde. Es ist erlaubt, Fotos von den Gebäuden zu machen, aber nicht von den Menschen. Die Nordkoreaner mögen es nicht, wenn man Fotos von ihnen macht.«
    Wir laufen eine triste Straße entlang, auf der zu beiden Seiten trist gekleidete Passanten gehen. Es gibt nichts zu verkaufen und nichts zu kaufen. In einer Fleischerei steht eine Kühltheke mit einem einzigen Stück Kalbfleisch, das auf einen glücklichen Käufer wartet. Es ist ein Hin und Her von Menschen ohne ein Lachen, ohne Fröhlichkeit, in völliger Monotonie. Ein paar Kinder sehen den ersten Westmenschen mit großer Nase und weißer Haut und laufen

Weitere Kostenlose Bücher