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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Jimenez
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erschreckt davon oder flüchten sich in die Arme ihrer Mütter. Ein paar Fußgänger überschütten mich im Vorbeigehen mit offensichtlichen revolutionären Beleidigungen, die Frau Sim freundlich als Grüße des »liebenswerten nordkoreanischen Volkes« übersetzt. Wenn ich einmal zurückkomme, denke ich, darf ich nicht vergessen, Frau Sim die neueste Musik mitzubringen. Sie war auf dieser Reise sehr freundlich. Ich glaube, wenn sie sich wirklich bewusst ist, an welchem Ort sie lebt, muss das Leben für sie besonders hart sein.
    |245| Für den Abend haben sie ein besonderes Bankett für mich vorbereitet, noch üppiger als an den Vortagen, jedoch nicht minder unverdaulich. Zum dritten Mal zieht Frau Sim für mich das traditionelle koreanische Gewand an; Herr Pak trägt Krawatte. Der Fahrer schließt sich uns an. Als der Nachtisch kommt, nutzt Herr Pak, der Fremdenführer, die vorübergehende Abgelenktheit der anderen, um mir eine Frage zu stellen, die ihm bestimmt schon seit Jahren auf den Nägeln brennt, ohne dass er jemand gefunden hätte, dem er sie stellen konnte.
    »Wie leben denn die Leute im Süden wirklich?«
    Die Frage macht mich etwas verlegen. Wir wissen beide, dass wir in den letzten Tage nur geschauspielert haben, jeder in seiner Lügenrolle, nun habe ich den Eindruck, dass Herr Pak mich bittet, für einen Moment die Maske fallen zu lassen und aufrichtig zu sein. Ist es möglich, dass auch er es weiß?
    »Den Menschen auf der anderen Seite«, erkläre ich, »steht es frei, ihr Land zu verlassen und zurückzukommen, wie es ihnen beliebt. Es gibt dort auch Arme, das stimmt, doch niemand hungert, und im Winter funktioniert die Heizung. Niemand hat Angst vor der Regierung; es ist die Regierung, die Angst vor den Bürgern hat. Die Politiker können abgewählt werden, wenn ihre Arbeit den Bürger nicht gefällt. Südkorea ist ein in aller Welt bewundertes Land. Seine Fernseher, Autos und Handelschiffe verkaufen sich in Amerika und Europa. Es ist ein modernes Land, und, vor allem, ein freies…«
    Herr Pak verharrt schweigend. Er stellt keine weiteren Fragen. Unsere kleine Kampfpause der Ehrlichkeit ist beendet.
    Am folgenden Tag begleitet mich das Trio zum Flughafen. Herr Pak sagt: »Ich hoffe, sie nehmen keinen falschen Eindruck von unserem Land mit nach Hause.« Frau Sim fügt hinzu: »Ja, wir hoffen, dass Sie einen guten Eindruck von unserem Land mit nach Hause nehmen.« Beide sagen: »Kommen Sie bald wieder.« Ich warte, bis mein Flugzeug von der Piste des Flughafens von Pjöngjang abgehoben hat, blicke aus dem Fenster und sehe noch einmal |246| das Bild des Großen Führers, das die Fassade des Terminals schmückt. Ich atme erleichtert auf bei dem Gedanken, dass ich sie nun los bin, ihn und seinen Sohn.
    Wie einfach es für mich ist: Ich bin gekommen, habe mir alles angesehen und gehe wieder. Wie anders ist es für alle, die bleiben. In einem Land, das in Licht und Finsternis geteilt ist, wo die Träume von den Jahreszeiten abhängen und der Weg in die Freiheit für viele ein gefrorener Fluss ist, leben die Nordkoreaner gefangen in der dunkelsten Ecke der Menschheit, dort, wo Angst und Verzweiflung nisten.

*
Da nach koreanischem Verständnis mit der Geburt das erste Lebensjahr vollendet ist, beginnt die nordkoreanische Zeitrechnung de facto mit dem Jahr 1911. (A. d. Ü.)

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    |249| Kapitel 9
Chopin mit Chaojun
    |251| D ie einzige Chance von Yang Weiqi und Zhu Li kam als Mädchen zur Welt. Sie bekamen keine weiteren Kinder, weil ihnen die chinesischen Gesetze nur eines erlaubten. Die Ärzte im Krankenhaus in Schanghai übergaben den Säugling seinen Eltern mit einer Miene, als müssten sie ihnen die traurige Nachricht vom Ableben ihres kleinen Patienten überbringen. »Machen Sie sich keine Sorgen, vielleicht erlaubt die Regierung in Zukunft ein weiteres, und es wird ein Junge«; »Es bleibt Ihnen ja immer noch die Möglichkeit, die Strafe zu bezahlen und doch noch ein zweites Kind zu bekommen.« Doch Yang Weiqi brauchte nur einen Blick auf sein Baby zu werfen, um die jahrhundertealte chinesische Tradition der Bevorzugung männlicher Nachkommen abzuschütteln. Für nichts auf der Welt würde er sein Mädchen wieder hergeben.
    »Sie wird besser als ein Mann«, verkündete er, und so bekam das Mädchen den Namen Chaojun: »besser als ein Mann«.
    Das Ehepaar hatte sich in Tsingtau in der Provinz Shandong kennen gelernt. Er war dort als Industriemechaniker beschäftigt (und

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