Kinder des Monsuns
war nur noch er selbst übrig.
»Ich glaube, die anderen sind verhaftet worden«, sagt Kim.
Viele chinesische Familien aus den grenznahen Orten versuchen, den Flüchtlingen zu helfen, trotz des offiziellen Verbots. Sie geben denen, die an ihre Tür klopfen, etwas zu essen und gewähren ihnen gelegentlich auch eine Zeitlang Unterschlupf. Frau Fang ist mittlerweile eine der Aktivsten unter ihnen. Schließlich erlebte China erst vor einigen Jahrzehnten eine der größten Hungersnöte der Geschichte. Die Alten erinnern sich noch daran, wie sie unter dem Hunger litten, die Jungen haben Dutzende Male die Geschichten aus den Tagen des Mangels gehört, als die älteren Generationen dazu verdammt gewesen waren, das zu essen, was selbst die Schweine verschmäht hätten. Tatsächlich verdankt sich der berechtigte Ruf der Chinesen, dass sie alles essen, was vier Beine hat, außer Tischen, und alles, was fliegt, außer Flugzeugen, jener Zeit. Der Hunger setzte Hunde, Ratten und Insekten auf die chinesische Speisekarte, und daraus sind in einigen Regionen des Landes Spezialitäten geworden.
Kaum zu glauben, doch Jahrzehnte nach Mao Zedongs Großem Sprung nach vorn zwang ein weiterer Irrer voller revolutionärer Hirngespinste abermals ein Volk mit einer großen Hungersnot in die Knie, wie um die Unfähigkeit des Menschen unter Beweis zu stellen, aus der Vergangenheit zu lernen. Was den Fall Kim Jong Il noch empörender machte, war, dass Mao an seine Hirngespinste wenigstens selbst geglaubt hatte, während der Geliebte Führer und seine Kamarilla aus Militärs und Funktionären in Pjöngjang in Saus und Braus leben.
Sein Regime gründet auf einem riesigen Betrug: Statt gegen die Privilegien der Geburt zu kämpfen, hat die Machtclique hier die erste kommunistische Erbdynastie der Geschichte errichtet, statt den Reichtum des Landes gerecht zu verteilen, schwelgen |239| die Führer in zügellosem Luxus und leben wie Fürsten, während das Volk sich ausschließlich von marxistischer Ideologie ernährt. Den Prinzipien des Kommunismus wurde ein Mafiastaat aufgepflanzt, der sich aus dem internationalen Raketen-, Drogen- und Waffenschmuggel und allem finanziert, was sich verkaufen lässt, sei es legal oder illegal. Die nordkoreanische Elite, die vielleicht zu einem früheren Zeitpunkt einmal von Ideen angetrieben wurde, ist ganz und gar den Reizen des kapitalistischen Materialismus erlegen. Man kann sie auf dem Flughafen von Pjöngjang landen sehen, frisch aus Peking zurückgekehrt, beladen mit Farbfernsehern, Cognacflaschen und Sexvideos, mit allem, was sie ihrem Volk verbieten.
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Frau Fang ist vierzig, zu jung, um noch unter dem Hunger des Großen Sprungs nach vorn gelitten zu haben, doch sie kann nicht anders, als den Flüchtlingen zu helfen. Sie hat von den Neuankömmlingen, denen sie immer etwas zu essen anbietet, warmen Tee oder eine Nudelsuppe, ein paar Brocken Koreanisch gelernt. Es gibt unter den Ankömmlingen Ärzte und Polizisten, Ingenieure und Soldaten, Lehrer und enttäuschte Funktionäre. Es gibt vor allem Frauen, und Frau Fang bemüht sich, sie zu warnen, denn sie sind die Einzigen, die hier mit offenen Armen empfangen werden.
Der Frauenmangel in China, verursacht durch Jahrzehnte des Kindesmords und der Abtreibung von Millionen von Mädchen, hat im Nachbarland Koreas eine Generation von Junggesellen heranwachsen lassen, für die es immer schwieriger wird, eine Frau zu finden. Die Nordkoreanerinnen, denen es gelingt, den Tumen-Fluss zu überqueren, sind zu einer einfachen Lösung dieses Mangels geworden. Lin, der Fremdenführer, der mir auf einer früheren Reise an die Grenze demonstriert hatte, wie frisch die Nordkoreaner ihren Fisch essen, hatte mir erklärt, wie dieser Heiratsmarkt funktioniert. Er unterhielt gute Kontakte zu den koordinierten |240| Kupplernetzen auf beiden Seiten der Grenze. Eines Tages, wenn er etwas Geld beisammen hatte, wollte auch er sich eine koreanische Braut kaufen.
Er brachte mich zu einer verlassenen Wohnung am Stadtrand von Yanji, eine Autostunde von der Grenze entfernt, wo wir zwei Kuppler trafen, die er kannte. Die Wohnung hatte kleine Separees, wo etwa zwanzig Frauen auf mögliche Käufer warteten. Die beiden Männer, die das Geschäft führten, klagten darüber, wie schwierig die Zeiten für sie geworden seien. Die Polizei hatte ihre Razzien verschärft und Tausende von Frauen zurück über die Grenze geschickt. Eine Anklage wegen Menschenhandels, die sich früher mit einem kleinen
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